Teilnahme an den Veranstaltungen der Bundesregierung und der Stiftung 20. Juli 1944 anlässlich des 62. Jahrestages des 20. Juli 1944 in Berlin.
Auch im Jahr 2006 nahmen unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig und seine Frau auf Einladung des Zentralverbandes demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen e.V. (ZDWV) am 19. Und 20. Juli 2006 an den Gedenkveranstaltungen der Bundesregierung und der Stiftung 20. Juli 1944 in Berlin teil.
Diese begannen am Abend des 19. Juli 2006 mit dem Vortrag von Anneliese Knopp-Graf, der Schwester des zur „Weißen Rose“ gehörenden Widerständlers Willi Graf, on der St. Matthäus-Kirche in Berlin-Mitte.
Die Veranstaltungen am 20. Juli 2006 begannen mit einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee.
Als Gedenkveranstaltung der Bundesregierung folgte dann die Feierstunde im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße. Diese begann mit der Begrüßung durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit, setzte sich fort mit der Ansprache von Bundespräsident Christian Wulff und endete mit der Kranzniederlegung durch den Bundesratspräsidenten Peter Harry Carstensen und den Generalinspekteur der Bundeswehr General Wolfgang Schneiderhan.
Am Nachmittag des 20.Juli 2006 fand die Gedenkstunde in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee statt.
Sehen Sie hier die Bilderstrecke zu den erwähnten Veranstaltungen:
Vortrag über den Koblenzer Sinto Daweli Reinhardt in der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz
Im Anschluss an die Veranstaltungen zum 20. Juli 2006 in Berlin hielt unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig auf Einladung der Friedrich-Wolf-Gesellschaft in Lehnitz einen Vortrag über die Geschichte der Sinti und speziell über Leben, Verfolgung und Wirken des Koblenzer Sinto Daweli Reinhardt.
Lesen Sie HIER den Vortrag:
Joachim Hennig: Daweli Reinhardt.
Daweli Reinhardt
von Joachim Hennig
Vortrag gehalten am 22. Juli 2006 in der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
0. Vorstellung
Liebe Frau Berndt. Haben Sie vielen Dank für die freundlichen einführenden Worte. (Sie haben schon die hier voll im Raum stehende Frage beantwortet): Wie kommt ein in Koblenz am Rhein in der Gedenkarbeit für die Opfer des Nationalsozialismus Engagierter dazu, in der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz einen Vortrag über einen Sinto, also einen – wie man so sagt - Zigeuner zu halten? Das ist schon ein bisschen eigenwillig. Aber Sie wissen es jetzt. – So war es.
Entstanden ist alles daraus, dass ich in Koblenz für den Förderverein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus eine Ausstellung erarbeite mit Opfer des Nationalsozialismus aus Koblenz und Umgebung. Zum 27. Januar 2003 habe ich die ersten Ausstellungstafeln mit solchen Biografien erstellt. Inzwischen umfasst diese Ausstellung insgesamt 62 Personenbiografien. Zum diesjährigen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2006 habe ich die letzten 12 Tafeln erarbeitet. Eine von ihnen war und ist Friedrich Wolf gewidmet – ist Friedrich Wolf doch in Neuwied geboren – vielleicht 10 Kilometer von Koblenz entfernt. Frau Berndt hat mir dann mit Fotos für diese Biografie geholfen – und damit war der freundliche Kontakt hergestellt.
Da passte es natürlich, dass meine Frau und ich auch in diesem Jahr wieder zu den Gedenkveranstaltungen der Bundesregierung zum 20. Juli in Berlin eingeladen waren. Da wir wegen weiterer Recherchen im Bundesarchiv ohnehin einige Tage länger in Berlin geblieben sind, können wir heute bei Ihnen in Lehnitz sein.
Und warum – so werden Sie fragen – wird nun gerade die Geschichte eines Sinto erzählt? Nun, auch dafür gibt es eine Erklärung. Mit anderen zusammen habe ich diesen Koblenzer Sinto interviewt und daraufhin ein kleines Büchlein geschrieben. Dieser Sinto ist als 10-Jähriger mit seiner Familie aus Koblenz verschleppt worden. Er kam in das Zigeunerlager des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Dies hat er überlebt, weil er sich schlau verhalten hat und als Arbeitskraft gebraucht wurde. Er kam von Auschwitz-Birkenau ins KZ Ravensbrück und von Ravensbrück ins KZ Sachsenhausen. In Sachsenhausen zwang man ihn mit seinem Bruder auf den Todesmarsch. Auch den Todesmarsch überlebte er. Da nun das ehemalige KZ Sachsenhausen nicht weit von hier entfernt liegt, bietet es sich an, von ihm zu erzählen.
1. Vortrag zur Geschichte der „Zigeuner“
Erzählen möchte ich Ihnen von Herrn Daweli Reinhardt. Aber ich möchte Ihnen nicht nur von ihm, sondern überhaupt von seinen Leuten und deren Geschichte erzählen. Daweli – oder wie er mit seinem bürgerlichen, aber sehr prosaischen Namen heißt Alfons – Reinhardt gehört zu den Menschen, die seit Jahrhunderten „Zigeuner“ genannt werden. Das sind Menschen, die wir vor allem nach ihrem Äußeren so definieren. Sie sind eher dunkelhäutig, schwarzhaarig, haben ihre eigenen Sitten und Gebräuche, sind ein wenig unnahbar, sind uns fremd, sprechen eine eigene Sprache, haben eigene Mythen, die Männer machen „Zigeunermusik“, die Mädchen und jungen Frauen sehen gut aus, verblühen aber bald, die Männer sind heute zum Teil Antik- und Schrotthändler, früher waren sie als Fahrende und Vaganten unterwegs, die Frauen betrieben einen Kleinhandel mit Kurzwaren, auch bettelten sie und waren Wahrsagerinnen, die Männer waren Musiker, Zirkusleute, Rosshändler und Rosstäuscher, auch Diebe und Lügner, sie waren früher unstet, zogen viel umher, das lag wohl in ihrer Natur, denn sie stammten aus Indien und waren seitdem Jahrhunderte lang auf Wanderschaft. Nicht selten wurde und wird die Bezeichnung „Zigeuner“ als „Zieh-Gauner“ verstanden, als Gauner, die umherziehen.
Da nimmt es nicht wunder, dass diese Menschen sich durch diese Bezeichnung manchmal, aber nicht durch jeden, der das Wort gebraucht, diskriminiert fühlen. Das Wort Zigeuner wird meist als Schimpfwort verwendet. Es ist der Name, der ihnen von den „Gadje“, den „anderen“, gegeben wurde. Dabei kommt hinzu, dass in der NS-Zeit unter diesem Begriff eine Ausgrenzung, Diskriminierung, Selektion und Verfolgung stattfand. Dieser Begriff ist damit spätestens durch den Völkermord an diesen Menschen und diesem Volk zu einem Unwort geworden – jedenfalls bei denen, die – wie die „Zigeuner“ und ihre Freunde – nicht so unbefangen mit diesem Wort umgehen können.
Verbietet sich danach „vom Kopf“ her, den Begriff „Zigeuner“ (weiter) zu verwenden, so tut man sich doch mit der Vermeidung dieses Begriffs schwer. Schlecht und recht eingebürgert hat sich bei uns stattdessen inzwischen der Doppelbegriff „Sinti und Roma“. Beide Begriffe – einerseits Sinti und Roma und andererseits Zigeuner – sind aber nicht deckungsgleich. Roma ist eine Eigenbezeichnung dieses Volkes. Daraus entstanden ist eine internationale Sammelbezeichnung. Ein weibliches Mitglied heißt Romni, ein männliches Rom. Der Name „Rom“ bedeutet „Mensch“ oder „Mann“. Abgeleitet ist dies aus seiner eigenen Sprache: dem Romanes. Das Volk der Rom unterteilt sich in Europa grob gesagt in drei Stämme. Einer dieser Stämme ist wiederum der Stamm der Roma. „Roma“ gilt in Deutschland als Benennung für die im deutschen Sprachgebiet lebende Gruppe, die innerhalb der letzten 100 bis 150 Jahre immigriert ist. Die Roma leben heute vor allem in den Ländern Ost- und Südosteuropas, also in Ungarn, dem ehemaligen Jugoslawien, Tschechien, Rumänien und Bulgarien. In der Bundesrepublik Deutschland leben heutzutage etwa 25.000 Roma. Die zweite große Gruppe dieses Personenkreises sind die Sinti. Das ist der Sammelname der ethnischen Gruppen, die seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland, Italien, Jugoslawien und Österreich eingewandert sind. Das männliche Mitglied der Gruppe heißt Sinto, das weibliche Sintiza. Daneben gibt es als dritte große Gruppe noch die Calé, die spanischen und südfranzösischen „Zigeuner“.
Schon diese Beschreibung zeigt das Dilemma. „Roma“ ist einerseits ein Sammelbegriff für alle Stämme, andererseits aber auch der Begriff für einen von mehreren Stämmen. Mit dem Begriff „Sinti und Roma“ werden zum einen Mitglieder ganz unterschiedlicher Einwanderungsbewegungen bezeichnet. Zum anderen werden damit andere Gruppen ausgegrenzt wie die Calé und auch etwa die französischen Manusch.
Meine sehr geehrten Damen und Herren. Sie sehen, wie schwierig es ist, überhaupt zu beschreiben, mit welcher ethnischen Gruppe wir uns hier beschäftigen. Ich für meinen Teil habe mich darauf verständigt, die hier sesshaften „Zigeuner“ als „Sinti“ und die Personen, von denen aus früheren Jahrhunderten berichtet wird, als „Zigeuner“ oder ebenfalls als Sinti zu bezeichnen. Dabei meine ich, man sollte sich je nach Situation einer zutreffenden und möglichst nicht diskriminierenden Sprache befleißigen. Dabei kommt es meiner Meinung nach auch immer darauf an, was der Einzelne denkt und fühlt. Danach kann der abstrakte Begriff „Zigeuner“ manchmal nicht bzw. weniger diskriminierend wirken als die gestelzte Verwendung des Begriffs „Sinto“. Es versteht sich auf jeden Fall von selbst, dass man, wenn man eine konkrete, heute lebende Person meint, diese als Sinto oder Sintiza bezeichnet.
Nun nach diesen schwierigen Definitionen und dieser „political correctness“ zurück in die Friedrich-Wolf-Gedenkstätte hier in Lehnitz und zu Daweli, unserem Sinto aus Koblenz am Rhein.
Beginnen möchte ich meinen Vortrag mit einem Zitat über Koblenz und die Sinti. Es lautet:
Koblenz ... hat seit etwa 15 Jahren einen sehr erfreulichen Aufschwung genommen. In der Altstadt sucht man so viel wie möglich durch Verbreiterung der Straßen und Neubauten anstelle der alten Häuser Luft und Licht zu schaffen. Die Vorstadt hat sich durch den Ausbau der Straßen und durch schöne Häuserbauten sehr gut entwickelt... Es wird nun häufig geklagt, dass der Zuzug der Bewohner mit der Vergrößerung in keinem Verhältnis steht, trotzdem Koblenz mit seiner schönen gesunden Lage und seinen günstigen Steuerverhältnissen sehr zur Niederlassung einlädt, besonders wünschenswert wäre ein kapitalkräftiger Zuzug. Seit Jahresfrist hat nun ein Zuzug nach hier stattgefunden, der weder der Stadt noch den Gewerbetreibenden von Vorteil ist... Zigeuner sind es.
Nun so viel zum Thema „Koblenz und die Zigeuner“. Zum Glück ist das Zitat nicht aus der örtlichen Zeitung von gestern, sondern schon etwas älteren Datums. Lassen Sie uns mit diesem Zitat einen Blick in die Geschichte der Deutschen und der Zigeuner tun.
Zum ersten Mal werden die Zigeuner in Deutschland in einem Urkundenbuch der Stadt Hildesheim aus dem Jahre 1407 erwähnt – also vor nunmehr ziemlich genau 600 Jahren. Am 20. September 1407 haben sie sich auf der Stadtschreiberei in Hildesheim einfinden müssen, um ihre Papiere überprüfen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit wurde ihnen „ein halbes Stübbchen Wein“ gegeben. In dieser Urkunde werden sie als „Tateren“, also als Tataren, bezeichnet. Als sie zehn Jahre später in anderen deutschen Städten auftauchen, nennt man sie „Tateren ute Egipten“ oder einfach „Egiptenleut“. Die Bezeichnung „Ägypter“ beruhte übrigens auf den eigenen Angaben der Zigeuner. Sie behaupteten nämlich, aus Ägypten gekommen zu sein und sich auf einer Pilgerfahrt zu befinden. Ihr Anführer bezeichnete sich als Herzog von Kleinägypten – wobei das noch weiter verwirrte, da man damals als „Klein-Ägypten“ den Peleponnes bezeichnete. Den Bürgern gaben sie sich als gute Christen aus. Das förderte die Spendenfreudigkeit, gerade auch hinsichtlich Tauf- und Patengeschenken für ihre Kinder. Manche Zigeuner ließen um dieser Geschenke willen ihre Kinder auch gern mehrmals taufen. Der ausführlichste Bericht über die Ankunft der Zigeuner in Deutschland stammt aus der „Cosmographia“ des Sebastian Münster. Darin heißt es:
Als man zählt von Christi Geburt 1417 hat man zum ersten in Teutschland gesehen die Zigeuner, ein ungeschaffen, schwarz, wüst und unflätig Volk, das sonderlich gern stiehlt, doch allermeist die Weiber, die also ihren Mannen zutragen. Sie haben unter ihnen einen Grafen und etliche Ritter, die gar wohl bekleidet und werden auch von ihnen geehrt. Sie tragen bei ihnen etliche Brief’ und Siegel, vom Kaiser Sigmund und anderen Fürsten gegeben, damit sie ein Geleit und freien Zug haben durch die Länder und Stätt. Sie geben auch für, dass ihnen zur Buße aufgelegt sei, also herumzuziehen, in Pilgerweiss’, und dass sie zum ersten aus Klein Egypten kommen seien. Aber es sind Fabeln. Man hat es wohl erfahren, dass dies elend Volk erboren ist, in seinem Umschweifen ziehen, es hat kein Vaterland, zieht als müßig im Land umher, ernährt sich mit Stehlen, lebt wie ein Hund, ist keine Religion bei ihnen, ob sie schon ihre Kinder unter den Christen taufen lassen. Sie leben ohne Sorg’, ziehen von einem Land in das andere, kommen aber über etliche Jahre wieder. Doch teilen sie sich in viel Schaaren und verwechseln ihren Zug in die Länder. Sie nehmen auch Mann und Weib in allen Ländern, die sich zu ihnen begehren zu schlagen. Es ist ein seltsam und wüstes Volk, kann viel Sprache und ist dem Bauersvolk gar beschwerlich. Wann die armen Dorfleut im Feld sind, durchsuchen sie ihre Häuser und nehmen, was ihnen gefällt. Ihre alten Weiber ernähren sich mit Wahrsagen, und dieweil sie den Fragenden Antwort geben, wie viel Kinder, Männer und Weiber sie werden haben, greifen sie mit wunderbarlicher Behändigkeit ihnen zum Seckel oder zu der Taschen und leeren sie, dass es die Person, der solches begegnet, nicht gewahr wird.
An diesem Bericht merkt man schon, dass die Stimmung hinsichtlich der Zigeuner umschlägt. Schon sehr früh bildeten sich alle die Vorurteile und Einschätzungen der Mehrheitsgesellschaft aus, die sehr bald und bis auf den heutigen Tag manifest oder unterschwellig mehr oder minder Gemeingut den „Zigeunern“ gegenüber wurden und auch noch heute sind. Ins Kraut schossen diese Ressentiments und Erfahrungen, weil zwei gegensätzliche Kulturen zusammentrafen, die praktisch keine Gemeinsamkeiten hatten und auch nicht haben wollten. Dies führte innerhalb kürzester Zeit zu einem Konflikt, der von der Mehrheitsgesellschaft aggressiv und oft mit gewaltsamen Methoden und beispielloser Brutalität ausgetragen wurde.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts begannen dann die Verfolgungen der Zigeuner durch die Behörden und durch die Bevölkerung. Marksteine waren dabei die Reichstage von 1497 und 1498. Sie erklärten den erwähnten „Schutzbrief“ des Kaisers Sigmund für ungültig bzw. gefälscht und die Sinti für vogelfrei. Jeder Bürger durfte Sinti gefangen nehmen und töten. Allein im Zeitraum von 1497 bis 1774 sind in deutschen Landen 146 Edikte gegen die Sinti erlassen worden, die alle Arten physischer und psychischer Gewalt an den Fremden zuließen.
Damit die vorüber ziehenden oder Einlass begehrenden Sinti nicht im unklaren blieben, welche Strafen sie zu erwarten hatten, wurden oftmals vor den Mauern der Stadt Stein- und Holztafeln, so genannte Zigeunertafeln, aufgestellt, die die drohenden Strafen ankündigten.
Auch im Rheinland gingen die kleinen und größeren Potentaten brutal gegen die Sinti vor. Ein im 18. Jahrhundert lebender Kurfürst von Mainz ließ alle männlichen Sinti, denen er habhaft werden konnte, hinrichten, die Frauen und Kinder wurden in seinem Auftrag mit Ruten gestrichen, gebrandmarkt und über die Grenzen gejagt. Bisweilen fielen Sinti auch einer waidmännischen Jagd zum Opfer. Wie ein Chronist damals schrieb, wurden im Rahmen eines jagdlichen Kesseltreibens Sinti „gehetzt und getötet, wie das Wild in den Wäldern, mit denen man sie als gleichstehend erachtete“. Diese Haltung war es dann auch, die im Jahre 1700 in einem kleinen rheinischen Fürstentum dazu führte, als Jagdbeute auch eine Zigeunerin mit ihrem Säugling aufzuführen.
Angesichts dessen nimmt es schon wunder, dass die Sinti zu Beginn der Neuzeit und dann auch später überhaupt überleben konnten. Dafür gab es mehrere Gründe. Der eine lag darin, dass das damalige „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ aus einer Vielzahl von Kleinstaaten bestand. Zwischen ihnen gab es kaum Informationsaustausch, auch waren die Interessen der einzelnen Kleinstaaten und ihrer jeweiligen Machthaber durchaus unterschiedlich. Demgegenüber war die Reichsgewalt machtlos und konnte diese Maßnahmen nicht bündeln und koordinieren. Zudem war die Organisation der Polizei in den Kleinstaaten nicht so straff und effektiv wie man erwarten könnte. Auch war das Land damals nicht so dicht besiedelt wie heute. All dies verschaffte den Sinti damals noch verhältnismäßig große Überlebensspielräume. Sie verstanden es auch, diese zu nutzen. Immer wieder gelang es ihnen, Lücken in der Überwachung zu erkennen und hindurch zu schlüpfen. Es kam ihnen zu Gute, dass sie mit den örtlichen Gegebenheiten oft besser vertraut waren als die Polizei. Manchen Trick wandten sie dabei an. So zogen sie sich geschickt in nahezu unzugängliche Gebiete zurück. Auch lagerten sie gern in Grenznähe, um dann bei Gefahr rasch in einen anderen Kleinstaat ausweichen zu können.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewinnen andere Aspekte im Umgang mit den Sinti und Roma Bedeutung. Man hatte erkannt, dass sie weder ausgerottet noch mit Gewalt aus Deutschland vertrieben werden konnten. Es blieb kein anderer Weg, als nach neuen Lösungen zu suchen. So entstand unter der Kaiserin Maria Theresia von Österreich-Ungarn ab 1761 der erste umfassende Plan für eine allgemeine Assimilierungspolitik. Sie ließ Saatgut und Vieh verteilen und erwartete als Gegenleistung von den Roma, dass sie zu rechtschaffenen Bauern wurden. Geplant war auf Staatskosten u.a. der Bau von Hütten, die die Zelte ersetzen sollten. Die fahrende Lebensweise und der Pferdehandel wurden verboten. Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, damit sie bei christlichen Pflegeeltern erzogen wurden.
Doch auch mit diesen Mitteln ließ sich das so genannte Zigeunerproblem nicht lösen. Nach wie vor zogen die Sinti durch das Land und verdienten sich als Kesselflicker, Abdecker, Scharfrichter, Korbflechter, Pfeifenschnitzer und Musiker ihr Geld. Auch wurde gebettelt und manchmal gestohlen und betrogen. Als Pferdehändler und Zirkusunternehmer gelangten einige Sinti sogar zu einem gewissen Wohlstand.
In diese Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts fällt auch die erste nähere Beschäftigung mit der Sprache und der Herkunft der Roma. Anhand der Sprache der Roma, dem Romanes, konnte festgestellt werden, dass die Roma zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören und aus dem Nordwesten Indiens stammen. Inzwischen nimmt man an, dass sie zwischen 800 und 1000 n. Chr. aus ihrer indischen Heimat, in der sie Händler, Handwerker und Musiker waren, durch das Einströmen arabischer Volksstämme zur Auswanderung gezwungen wurden. Sie wanderten dann nach Westen. Man unterscheidet eine nördliche, eine südliche und eine mittlere Gruppe. Diese mittlere Gruppe verblieb zunächst in der Türkei, überquerte dann den Bosporus, erreichte Griechenland und alle anderen Länder der Balkanhalbinsel. Um 1400 kamen Teile von ihnen nach Mitteleuropa und auch nach Deutschland. Diese Wanderungsbewegungen lassen sich aus der Analyse des in Deutschland gesprochenen Romanes schlussfolgern. In ihm haben nämlich manche Begriffe anderer Sprachen als Lehnwörter Eingang gefunden. Daraus kann man schließen, dass die Roma auf ihrem Weg nach Westen diese Länder durchzogen und dabei deren Sprache teilweise rezipiert haben.
Eine weitere Wende in der Zigeunerpolitik gab es mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871. Bald danach setzte in allen deutschen Ländern eine energische „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ ein. Die Maßnahmen gingen dabei in verschiedene Richtungen. Ein Maßnahmenbereich betraf ausländische Zigeuner. Diese versuchte man gleich an der Grenze am Betreten des Reichsgebietes zu hindern bzw., wenn sie im Reichsgebiet angetroffen wurden, sie in Nachbarstaaten abzuschieben. Dabei war es für die seit langem in Deutschland lebenden, aber umherziehenden Sinti oft schwer, ihre preußische, bayerische oder sonstige Staatsangehörigkeit nachzuweisen. In einem weiteren Maßnahmenbereich ging es um die Atomisierung der umherziehenden Sinti mit dem ausschließlichen Ziel ihrer Sesshaftmachung. So schikanierte man die in einer größeren Gemeinschaft Umherziehenden, damit sie nur noch familienweise unterwegs sein sollten. Auch versuchte man die Kinder zur regelmäßigen Schulpflicht vor Ort zu zwingen und damit das Umherziehen der Eltern zu unterbinden. Ein Interesse war es zudem, die Kinder von den Eltern zu trennen, indem man den Eltern wegen „Verwahrlosung“ das Sorgerecht für die Kinder entzog und diese in Fürsorgeerziehung steckte. Ein weiterer Maßnahmenbereich betraf die Erteilung von Wandergewerbescheinen. Obwohl auch damals schon die Freizügigkeit für deutsche Staatsangehörige galt, schränkten die Behörden diese für die Zigeuner ein und verlangten für deren Freizügigkeit, dass sie im Besitz eines Wandergewerbescheines nach der Reichsgewerbeordnung waren. Ohne eine solche Erlaubnis war – so die damals bewusst rechtswidrige Handhabung der Behörden – ein Umherziehen verboten. Wenn die Behörden also – was sie auch taten – Sinti die Wandergewerbescheine nur unter ganz engen Voraussetzungen oder am besten gar nicht erteilten, konnte man auf diese Weise ihr Umherziehen einschränken oder ganz unterbinden. – Dabei handelte es sich – was ich hier ausdrücklich betonen möchte – um ein Sonderrecht der Behörden für die Sinti und Roma, das mit dem Reichsrecht, dem Recht auf Freizügigkeit und auch mit der Berufs- und Gewerbefreiheit nicht bzw. nur bedingt in Einklang stand.
Einen Markstein bei der „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ in Preußen und damit auch in der Rheinprovinz und damit auch in Koblenz und Umgebung war dann die Anweisung des preußischen Ministers des Innern zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ vom 17. Februar 1906. Übermittelt wurde sie mit einem erläuternden Anschreiben auch an den Regierungspräsidenten in Koblenz. In dem Schreiben hieß es u.a.:
Mit Rücksicht auf die neuerdings zunehmenden Klagen über die Belästigung der Bevölkerung durch umherziehende Zigeuner habe ich im Einvernehmen mit den beteiligten Herren Ressortministern die anliegende „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ erlassen, welche die hierüber bestehenden Bestimmungen einheitlich zusammenfasst und an der Hand der inzwischen gemachten Erfahrungen ergänzt. Ich hoffe, dass die Anweisung bei gewissenhafter Durchführung dazu beitragen wird, dem jetzigen Zigeunerunwesen zu steuern. Dazu ist es aber in erster Linie erforderlich, dass die unteren Verwaltungsbehörden, insbesondere die Landräte der Sache ihr volles Interesse zuwenden und den ihnen unterstellten Polizeibehörden und Gendarmen die genaue Befolgung der Anweisung zur besonderen Pflicht machen. Ebenso nötig ist es aber auch, dass die Bevölkerung die Beamten bei der Durchführung der Anweisung in jeder Beziehung unterstützt und ihnen insbesondere über das Auftreten von Zigeunern sofort Anzeige erstattet.....
Diese „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ vom 17. Februar 1906 unterschied wiederum zwischen ausländischen und inländischen Zigeunern. Alle ausländischen Zigeuner sollten am Grenzübertritt gehindert werden. Als „ausländische Zigeuner“ sollten dabei auch diejenigen behandelt werden, deren deutsche Reichsangehörigkeit nicht zweifelsfrei nachweisbar ist.
Bei den inländischen Zigeunern setzte man alles daran, sie möglichst an einem Wohnort sesshaft zu machen, damit sie nicht im Umherziehen der Bevölkerung zur Last fallen. Um dem Umherziehen entgegenzuwirken, empfahl der Innenminister „vorbeugende und unterdrückende Maßnahmen“. Vorbeugend sollte bei der Ausstellung von Ausweispapieren mit besonderer Vorsicht verfahren und für verwahrloste Kinder die Fürsorgeerziehung beantragt werden. Als unterdrückende Maßnahmen empfahl der Minister, gegen alle Straftaten umherziehender Zigeuner mit besonderem Nachdruck einzuschreiten und während des Umherziehens die „Zigeunerbanden“ dauernd polizeilich zu beobachten. Angestrebt war ein die Gemeindegrenzen übergreifendes, lückenloses Überwachungsnetz. Es folgen dann noch ins einzelne gehende Anweisungen, wie man die Sinti und Roma am besten schikanieren und vereinzeln kann. Neben der Aufforderung, die Sinti und Roma wegen Landstreicherei zu verfolgen, gibt es im Anhang noch eine Liste mit Strafbestimmungen, die „vorzugsweise in Betracht“ kamen, um sie gegen sie anzuwenden. Durch diesen Erlass ist es den Sinti und Roma kaum mehr möglich, ihre fahrende Lebensweise aufrechtzuerhalten, ohne in irgendeiner Form gegen dessen Bestimmungen zu verstoßen.
Damit war das gesamte Instrumentarium behördlicher Maßnahmen ausgebreitet, um den Sinti und Roma ihre fahrende Lebensweise zu verleiden und sie letztlich zur Sesshaftmachung zu zwingen.
Es ist wohl kein Zufall, dass sich im gleichen Jahr, in dem diese Anweisung ergangen ist, die ersten Sinti in Koblenz niedergelassen haben. Denn um beispielsweise einen Wandergewerbeschein ausgestellt zu erhalten, war es nötig, zumindest vorübergehend für den Winter einen festen Wohnsitz nachzuweisen. In dem Rhein- und Moselboten vom 3. November 1907 findet sich dann ein Bericht, den Sie alle kennen. Er beginnt mit den Worten: „Die Residenzstadt Koblenz ... hat seit etwa 15 Jahren einen sehr erfreulichen Aufschwung genommen.“ Weiter heißt es in ihm: „Seit Jahresfrist hat nun ein Zuzug nach hier stattgefunden, der weder der Stadt noch den Gewerbetreibenden von Vorteil ist ... Zigeuner sind es...“
Sie hatten sicherlich schon bei dem früheren Zitat Bedenken, dass es sich nicht auf die aktuelle Situation der Sinti in Koblenz beziehen kann. Es hatte durchaus Anflüge von Aktualität – wie Sie mir sicherlich zugeben -, aber man merkte schon, dass etwas nicht stimmte. Der „15jährige Aufschwung“ musste einen schon stutzig machen. Das Zitat ist wie gesagt ziemlich genau 100 Jahre alt.
Aus den folgenden 20 bis 25 Jahren ist nicht viel zu berichten, obwohl die Akten jener Jahre voll mit Details sind. Immer wieder gibt es Meldungen über das Auftauchen von Zigeunern in den einzelnen Orten und Städten und deren möglichst umgehende Weiterleitung zur nächsten Gemeindegrenze. Auch finden sich immer wieder Beschwerden von Landräten darüber, dass die Nachbarkreise und -städte nicht sorgfältig genug die restriktiven Vorschriften angewendet und dadurch Probleme bei der Weiterschaffung der Sinti gemacht hätten. So entwickelte sich geradezu ein Kleinkrieg zwischen dem tendenziell ein wenig liberaleren Koblenz und dem ihn weitgehend umgebenden sehr konservativen Landkreis Koblenz. Das muss hier genügen. Näheres würde zu weit führen.
Zur Illustrierung der Situation der Sinti möchte ich Ihnen aber eine Notiz aus dem Koblenzer Generalanzeiger vom 14. Februar 1930 mitteilen. Unter der Überschrift „Die Zigeunerplage im Landkreise Koblenz“ war da u.a. zu lesen:
Aus allen Teilen des Landkreises mehren sich die Klagen über die Zigeunerplage in der letzten Zeit. Nicht allein, dass dutzende Zigeunerinnen oft Haus für Haus aufsuchen, um Spitzen zum Verkauf anzubieten, auch männliche Zigeuner bieten, oft auf sehr zudringliche Art, Violinen zum Verkauf an; andere bieten den Bauern ihre Pferde an oder suchen „Händel“ mit ihnen zu machen. Wer einen Kauf eingeht, ist aber betrogen, meist sieht der Käufer den Betrug erst, wenn es zu spät ist und das Gesindel über alle Berge ist! In den letzten Tagen durchzog eine Bande einen Nachbarort von Koblenz; besonders Geschäftsbetriebe wurden von den Zigeunerfrauen mit Betteln belästigt; in einem Falle, in dem man die Landplage abwies, wurde von einer Zigeunerin die Fensterscheibe eingeworfen; ehe die Polizei verständigt werden konnte, war das Gesindel verschwunden.“
Dieser Zeitungsbericht ließ den Landrat des Landkreises Koblenz nicht ruhen. Schließlich war er es, der jahrelang die restriktiven Erlasse mit allem Nachdruck praktizierte und sich über das seiner Meinung nach lasche Verhalten der Stadt Koblenz beschwerte. Deshalb schrieb er bald darauf folgendes an den Regierungspräsidenten in Koblenz:
„Von einer Zunahme der Zigeunerplage im Landkreise Koblenz kann, wie meine Feststellungen ergeben haben, keine Rede sein; es ist im Gegenteil gerade in den letzten Jahren durch mein energisches Durchgreifen ein merklicher Rückgang in dem Vorkommen von Zigeunern zu verzeichnen. Trotz strenger Durchführung der Bestimmungen über die Überwachung der umherziehenden Zigeuner lässt es sich natürlich nicht vermeiden, dass Zigeuner zur Nachtzeit in den hiesigen Kreis eindringen und sich dort auf kurze Zeit ohne Überwachung aufhalten können. Es ist mir jedoch noch kein Fall bekannt geworden, wo derartige in den Kreis eingedrungene Zigeuner nicht bereits am nächsten Tage aufgegriffen und mit ordnungsgemäßen Begleitpapieren versehen unter Bewachung weitergeleitet wurden. Klagen der Bevölkerung über Belästigungen und Übergriffe durch Zigeuner sind mir insbesondere in der letzten Zeit nicht zu Ohren gekommen.
Der Verfasser des fraglichen Artikels ist ein in Metternich wohnender Gewährsmann des Koblenzer Generalanzeigers. Wie ich festgestellt habe, hielten sich um die fragliche Zeit in Metternich auf dem Kirmesplatz nach Zigeunerart umherziehende Personen (N.B.: also keine Zigeuner!) mit mehreren Wohnwagen einige Tage auf. Diese Leute sollen gebettelt und Violinen zum Kauf angeboten haben. Es ist dies wohl die Veranlassung für den Zeitungsartikel gewesen. Im vorliegenden Fall war jedoch, da Metternich seit dem 1. Januar dieses Jahres zu dem staatlichen Polizeibezirk Koblenz gehört, für die Überwachung der Zigeuner meine Zuständigkeit nicht gegeben. Die Mitteilung, dass von einer Zigeunerin in einem Nachbarorte ein Fenster eingeworfen worden sei, will der Artikelschreiber von einem Hausierer aus Bassenheim erhalten haben. Ob diese Mitteilung zutreffend ist, konnte jedoch bisher nicht in Erfahrung gebracht werden. Jedenfalls ist dem zuständigen Landjägerbeamten von der Angelegenheit nichts bekannt.“
In dieser Zeit – im Jahr 1932 – ist Daweli Reinhardt geboren. Hier möchte ich einen Schnitt machen. Ich möchte Ihnen von seinem Leben erzählen, wie er es mir erzählt hat und wie ich es niedergeschrieben habe in unserem Buch: „Hundert Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben“.
2. Vortrag zu Daweli Reinhardt und Lesung aus dem Buch „Hundert Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben“
In diesem Büchlein erzählt Daweli sein Leben, aber auch das seiner Familie und ein Stück weit auch das der Zigeunermusik. Denn schon der im Jahre 1900 geborene Vater Dawelis Karl Reinhardt war ein guter Musiker. Daweli selbst war ein sehr guter Musiker. Seine fünf Söhne Mike, Django, Moro, Sascha und Bawo sind auf dem Weg, sehr gute Musiker zu werden, und die nächste Generation, die Enkelgeneration, will einmal in die Fußstapfen ihrer Väter und ihres Großvaters und Urgroßvaters treten. (Es folgen Zitate aus dem Buch).
3. Vortrag: Wie ging es nach dem Krieg weiter mit Daweli und seiner Familie?
Soweit die Geschichte von Daweli Reinhardt, für den mit zehn Jahren seine kleine Welt wie ein Kartenhaus zusammenfiel, als er am 10. März 1943 mit seinen Eltern und seinen Geschwistern von Koblenz in das „Zigeunerlager“ des Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt wurde und der dann nach all dem Terror, der Todesangst, dem Schrecken, der Menschenquälerei, dem Schmutz und der Unmoral als 13Jähriger bald nach dem Krieg mit seinem Bruder Busseno an der Hand nach Koblenz zurückgekehrt ist.
Was ich an Daweli so bewundere, ist sein Wille zu überleben und zu leben, seine positive Lebenseinstellung. Nach dieser furchtbaren Zeit lässt er sich nicht unterkriegen, sondern macht da weiter, wo er vor der Deportation aufgehört hat. Allerdings ist er nicht mehr zur Schule gegangen. Die knapp vier Jahre Volksschule, die er vor der Deportation besucht hatte, mussten für sein Leben reichen. Aber der 13 Jahre alte Bursche machte wieder Musik und war Artist. Zuerst im Zirkus seines Onkels, dann im Zirkus seines Vaters, der unter dem Motto auftrat: „Frohsinn, Stimmung- in Reinhardts Reise-Varieté. Als dann Anfang der 1950er Jahre sein Vater starb, war auch mit dem Zirkus Schluss. Daweli machte aber weiterhin Musik, war Schroddeler, Boxer, Fußballer, Türsteher in Gastwirtschaften in der Altstadt. Bald heiratete Daweli seine Frau Trautchen und 1952 kam das erste Kind auf die Welt. Im Laufe der Zeit wurden sie eine große Familie mit fünf Jungen und fünf Mädchen. Alle fünf Jungen sind nach und nach Musiker geworden: Mike, Bawo, Django, Sascha und Moro.
Daweli war dann 1967 Mitbegründer und Solo-Gitarrist des berühmten Schnuckenack Reinhardt-Quintetts. Das war die Geburtsstunde der „Musik deutscher Zigeuner“, das war Sinti-Swing - in der Tradition des legendären Django Reinhardt und des „Hot Club de France“. Die Gruppe machte die ersten Schallplatten, auch mit Eigenkompositionen von Daweli – wie Dawelis Valse u.a. Stücken. Das Schnuckenack Reinhardt-Quintett trat auch auf dem legendären Waldeck-Festival auf der Burg Waldeck im Hunsrück Ende der 1960er Jahre auf. – Dann lebte man sich auseinander und Daweli verließ das Schnuckenack Reinhardt-Quintett.
Daweli baute dann eine eigene Formation auf – das Mike Reinhardt-Quintett. „Chef“ war der damals 15 oder 16 Jahre alte älteste Sohn Dawelis - Mike Reinhardt. Daweli spielte da auch mit sowie andere Familienangehörige und auch Wedeli Köhler. Mit ihrer ersten Schallplatte hatten sie einen großen Erfolg, wurden im „Stern“ als „Schallplatte der Woche“ vorgestellt. An diesen Erfolg konnten sie dann aber zunächst nicht anknüpfen, es wurde ruhig um die Reinhardts.
Weniger glanzvoll waren die Wohnverhältnisse und die ganzen Umstände, in denen die Reinhardts damals lebten. Nach der Befreiung aus dem KZ waren sie zunächst in das Kernwerk der Feste Franz zurückgekehrt. Ende der 1950er Jahre brachte man sie in „Einfachbauten“ in der Rothenlänge in Koblenz-Mittelweiden unter. Da war es nicht zum Aushalten und nach und nach zogen die Einwohner von dort an den Schönbornslusterweg in Koblenz-Lützel. Das war der sog. Platz.
Das war für die Kinder eine unbeschwerte Zeit – sie hatten unheimlich viele Freiheiten, Spielkameraden und Möglichkeiten, ihrer Musik nachzugehen. Sie hatten aber keine Perspektive. Wenn sie zur Schule gingen – und das war keineswegs regelmäßig -, dann gingen sie zur Sonderschule. Aber Musik haben Sie immer gemacht – und zwar gute. Schon damals haben sie Helfer gefunden und diese Hilfe angenommen. Es war ein Arbeiterpriester, der in einem Bauwagen jahrelang mit und unter ihnen gelebt hat und der es mit Hilfe anderer geschafft hat, für diese Großfamilien an verschiedenen Orten von Koblenz angemessene Häuser zu finden. Dort wohnen sie seitdem, sind sesshaft und weiter heimisch geworden. Sie haben ihre Musik weiter gepflegt und auch viele Erfolge gehabt - natürlich gab es auch Rückschläge. Inzwischen haben sie weitere Unterstützer gefunden. Es hat sich sogar ein Verein gegründet, der sie und die Jugendarbeit fördert. Er heißt „Django Reinhardt Music Friends“. Durch dessen Initiative, vor allem durch die Initiative von dessen Vorsitzenden, die nicht nur eine ehemalige, sehr engagierte Lehrerin ist, sondern auch die Ehefrau des Oberbürgermeisters von Koblenz, habe ich dann vor drei Jahren den Kontakt zu Daweli Reinhardt bekommen, ihn bei Oberbürgermeisters zu Hause interviewt und dann das Büchlein geschrieben. – Vor einiger Zeit hat Dawelis Schicksal einen Freund eines von Dawelis Söhnen so sehr ergriffen, dass er ein kleines Theaterstück geschrieben hat. Dawelis Sohn hat die Musik dazu gemacht. Entstanden ist daraus ein Musiktheater mit dem Titel „Von schwarzen Augen und gelben Sternen“. Es thematisiert die Verfolgung von Sinti und Juden in der NS-Zeit. Das ist schon wirklich gut. Sehr gut daran ist, dass das alles Laien gemacht haben. Den Text hat ein bei der Straßenreinigung von Koblenz beschäftigter Arbeiter geschrieben. Die Musik stammt von Dawelis Sohn Django, der Hausmeister bei der Koblenzer Wohnungsbaugesellschaft ist. Und aufgeführt wird dieses Musiktheater von Hauptschülern Koblenzer Schulen. Und alles ist „multikulti“ – und es klappt sogar.
Das war jetzt die Geschichte von Daweli Reinhardt und seiner Familie. Sie klingt unheimlich gut, sie ist auch gut – wenn auch nicht alles so schön und glatt ist, wie es Ihnen hier geschildert habe. Es ist aber eine Geschichte zum Mut machen. Und auch deshalb wollte ich sie Ihnen erzählen.
Ich möchte Sie jetzt noch gern zu einer Filmvorführung einladen. Es gibt einen Film über die Familie Reinhardt, in der sehr bekannte Schnuckenack Reinhardt im Mittelpunkt steht. Er zeigt aber auch Daweli Reinhardt, der bei Schnuckenack Reinhardt und seinem Quintett Solo-Gitarrist war, und auch Dawelis Familie. Deshalb möchte ich anbieten, Ihnen diesen Film hier zu zeigen. Er dauert etwa 45 Minuten.