Am 10. November 2006 fand erstmals in der 60jährigen Geschichte der rheinland-pfälzischen Justiz eine landeseigene, justizinterne Tagung zur NS-Justiz mit dem Titel statt: Justiz und Recht im Dritten Reich. Zustande kam die ganztägige Tagung im Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in Koblenz auf Initiative des stellvertretenden Vorsitzenden des Fördervereins Mahnmal Koblenz e.V., der als Richter am Oberverwaltungsgericht tätig ist. Diese Idee fand von Anfang an Unterstützung bei der neuen Spitze des rheinland-pfälzischen Justizministeriums.
Zur Tagung begrüßte Frau Staatssekretärin Reich in Vertretung des verhinderten Justizministers über 30 Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte aus dem nördlichen Rheinland-Pfalz. In ihrer Rede, in der sie die Teilnehmer ermunterte, die Justizgeschichte der Region kritisch aufzuklären, führte sie u.a. aus:
Die Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel unserer Justizgeschichte, nämlich des verhängnisvollen Wirkens von Richtern und Staatsanwälten im Dritten Reich, ist eine schmerzvolle und gleichzeitig fundamental wichtige Herausforderung für die Justiz von heute. Auch wenn unsere Gerichte und Staatsanwaltschaften heute fest auf dem Boden unserer demokratischen Verfassung stehen, so halte ich es für unerlässlich, uns mit dem Versagen vieler Verantwortungsträger in der Justiz während der unheilvollen Zeit des NS-Regimes auseinander zu setzen.
Die schonungslose Aufklärung unserer eigenen Geschichte ist vor allem deshalb so wichtig, weil gerade die Justiz von jeher als Wahrerin des Rechts verstanden und angesehen wurde. Richtern und Staatsanwälten sind vom Gemeinwesen besondere Autorität und Machtbefugnisse verliehen. Sie sind daher auch in besonderer Weise aufgerufen, mit dieser Macht verantwortungsvoll, transparent und dienend umzugehen, betonte die Staatssekretärin. Die justizgeschichtliche Forschung habe zwischenzeitlich mit großem Engagement und Mut viel Licht in diese dunklen Ecken der Geschichte gebracht. Auch in Rheinland-Pfalz sei viel im Bereich der Gedenk- und Erinnerungsarbeit getan worden, so Reich weiter. Die Staatssekretärin hob die Aufklärung durch den Förderverein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz e.V. und die Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit im heutigen Rheinland-Pfalz stellvertretend für viele zeitgeschichtliche Initiativen hervor und dankte besonders Herrn Richter am Oberverwaltungsgericht Joachim Hennig für sein unermüdliches Engagement in diesem Bereich.
Schuld ist immer eine persönliche Kategorie: Sie ist geknüpft an individuelles Entscheiden und Handeln und Folge individuellen Versagens. Es ist daher unerlässlich und höchst aufschlussreich, sich den Biografien der Täter zuzuwenden, sie zu erforschen. Genauso wichtig ist es, die Geschichte der Opfer aufzuzeigen, ihre Schicksale bekannt zu machen und zu würdigen. Es sind immer individuelle Menschen, denen Unrecht geschah, deren Lebensentwürfe zerstört und deren einmalige Existenz unwiederbringlich vernichtet wurde, so Reich.
Die Staatssekretärin unterstrich die Bedeutung justizinterner Fortbildungen zum Thema NS-Justiz und zeigte sich erfreut, dass in Koblenz eine wichtige Ergänzung und Vertiefung der entsprechenden Veranstaltungen der Deutschen Richterakademie angeboten würde. Sie ermutigte die Teilnehmer zur offenen und kritischen Auseinandersetzung und betonte abschließend: Der kritische Blick auf den politischen Kontext, in dem wir als Juristinnen und Juristen arbeiten, darf uns nie verloren gehen.
Justizrat Dr. Norbert Westenberger, Präsident der mitveranstaltenden Rechtsanwaltskammer beim Oberlandesgericht Koblenz, sprach ein Grußwort an die Teilnehmer und zeigte sich sehr erfreut, dass auch in Koblenz wie inzwischen an zahlreichen anderen Orten Deutschlands die Schicksale jüdischer Juristen, insbesondere jüdischer Rechtsanwälte, erforscht und dokumentiert würden.
Anschließend fand die ganztägige Tagung im großen Sitzungssaal des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz statt. Themen waren u.a.: Die Demontage des Rechtsstaats, Erbgesundheitsgerichte und Euthanasieaktion T 4, Sondergerichte und Volksgerichtshof sowie die Biografie der jüdischen Juristenfamilie Brasch. Referenten waren neben Joachim Hennig die Dres. Wolfgang Stein und Jost Hausmann, beides Archivare beim Landeshauptarchiv in Koblenz. Abgerundet wurde die Veranstaltung mit der Vorführung zweier Filme, einem Stadtrundgang sowie einer Ausstellung des Fördervereins Mahnmal Koblenz e.V. über Opfer des Nationalsozialismus aus Koblenz und Umgebung mit Justizhintergrund. Beigetragen zum Erfolg der Tagung haben auch andere Mitarbeiter des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz. Wegen der ausgesprochen guten Resonanz der Veranstaltung erwägt das Justizministerium eine weitere Tagung dieser Art im südlichen Rheinland-Pfalz, etwa in der Gedenkstätte KZ Osthofen.
Einen Eindruck von der Tagung und der Ausstellung des Fördervereins Mahnmal Koblenz vermitteln auch die Fotos, die vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zur Verfügung gestellt wurden:
Drei Vorträge von Joachim Hennig bei der Volkshochschule Koblenz zum Generalthema „Täter“
Teil1: Emil Faust (1899 – 1966)
Emil Faust (1899 – 1966)
Geboren wurde Emil Faust am 3. März 1899 in Oberlahnstein als Sohn eines Reichsbahnschaffners. Er hatte sieben Geschwister. Das muss eine schlimme Familie gewesen sein. Denn außer Emil Faust traten auch drei Brüder von ihm früh in die SA ein, wobei sich zwei von ihnen in der sog. Kampfzeit der Nazis derartig geprügelt hatten, dass sie für ihre schweren Verletzungen Rente bezogen.
Faust besuchte hier in Koblenz die Schenkendorfschule in der südlichen Vorstadt. Seine schulischen Leistungen waren durchschnittlich, schon früh galt er als „rau und robust“. Nach der Volksschule begann er eine Lehre als Kupferschmied. Diese brach er aber bald ab. Anschließend meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und nahm am Ersten Weltkrieg teil. Dadurch blieb ihm die Verbüßung einer Gesamtstrafe von drei Monaten und drei Wochen erspart, die gegen ihn wegen der Begehung mehrerer kleinerer Eigentumsdelikte verhängt worden war. Im März 1918 wurde er verwundet und erhielt dafür das Verwundetenabzeichen und das Eiserne Kreuz II. Klasse. Zu Kriegsende war er Unteroffizier. Wie viele andere auch, fand er nicht in das Zivilleben zurück bzw. hatte so viel Spaß an dem Kriegspielen gewonnen, dass er sich einem Freikorps, dem als besonders reaktionär bekannten „Freikorps Förster Löwenfeld“ anschloss. Dort blieb er zwei Jahre und beteiligte sich in dieser Zeit an der Niederschlagung der Arbeiterunruhen und des Spartakus. Auch kam er in Posen und in Oberschlesien beim „Grenzschutz“ zum Einsatz.
Nach der Auflösung des Freikorps im Jahr 1920 kehrte Faust nach Koblenz zurück. Auch jetzt gelang die (Wieder-)Eingliederung in das zivile Leben nicht. Er „flüchtete“ – wie er später angab – aus Koblenz und geriet in die Fremdenlegion. Nach einigen Jahren desertierte er von dort und kam wieder nach Koblenz. Hier heiratete er wohl 1926. Obwohl aus der Verbindung letztlich insgesamt 12 Kinder hervorgingen, galt die Ehe schon nach einigen Jahren als „zerrüttet“, Faust muss krankhaft eifersüchtig gewesen sein. Vielfach verdächtigte er die örtlichen Nazis des Ehebruchs und hat – wie er sich später ausdrückte – auch „des Öfteren vom Faustrecht“ Gebrauch machen müssen.
Von 1928 an – bis letztlich 1937 – war Faust abgesehen von kleinen Unterbrechungen arbeitslos. Mit seiner Familie wohnte er übrigens erst in der Kastorstraße 41, dann in der Feste Franz in Koblenz-Lützel. 1929 trat er in die SA ein, 1930 in die SS, später auch in die NSDAP. Hierbei muss man sehen, dass in Koblenz früh in Arenberg eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet wurde. Nach dem Verbot der NSDAP und Querelen vor Ort war die Partei in Koblenz längere Zeit nicht präsent. Erst im März 1929 kam es dann zu einer Neugründung der Koblenzer Ortsgruppe. Maßgeblichen Anteil daran hatte der Diplomhandelslehrer Gustav Simon, der spätere Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier-Birkenfeld und noch später des Gaues Moselland. Simon übernahm die Koblenzer Ortsgruppe der NSDAP und im November 1929 ließ er sich bei den Kommunalwahlen zum Stadtverordneten von Koblenz wählen. Er war Vorsitzender der NSDAP-Fraktion, der nach dem Zentrum zweitstärksten Fraktion im Stadtparlament. Seine Anhänger bewunderten ihn als „Massenredner von Format“, der mit seiner „glänzenden Rhetorik“ seine Zuhörer mitreißen konnte. Er war zugleich ein „Kämpfer“ und „Draufgänger“, der „Energie“ und einen „entschlossenen Willen“ besaß. Dank seiner „verbissenen Beharrlichkeit“ und seines „eisernen, rastlosen Fleißes“ wurde er zu einem „Vorkämpfer“ und „Aktivisten“ des Nationalsozialismus im späteren Gau Koblenz-Trier-Birkenfeld, dessen Gauleiter er 1931 dann auch wurde.
Sicherlich hatte Faust gerade auch Simon seine recht steile Karriere zu verdanken. Schon 1930 war Faust SS-Truppführer und im März 1931 SS-Sturmführer (Sturmführer ist so viel wie Leutnant) und führte den Koblenzer Sturm. Er selbst schrieb über diese Zeit: „1930-1931 bestand die Haupttätigkeit des Sturms im Schutz der Gauredner, da hierfür die SA nicht zuverlässig genug war. Der Sturm hatte zu dieser Zeit eine Stärke von 60 Mann.“ Faust stand im „Brennpunkt des Koblenzer politischen Geschehens“. Ein Mitglied der Koblenzer KPD erinnerte sich später, wie Faust „seinem Namen ‚alle Ehre’ gemacht“ hat: „Es gab fast keine Versammlung auf unserer Seite, wo Faust nicht mit seinem Sprengkommando auftauchte und versuchte, die Versammlung zu sprengen oder zu stören. Er war uns allen als ganz gemeiner Schläger und Terrorist bekannt.“ Ein Schreiben der SS aus dem Jahre 1938 bescheinigte Faust, ein „verwegener Kämpfer“ gewesen zu sein, der sich „überall durch seine ganz besondere Rohheit und Brutalität“ hervorgetan“ hatte. Weiter heißt es darin:
Faust hat sich (…) während der Kampfjahre unzweifelhaft große Verdienste um die Schutzstaffel und um die Bewegung im Gaugebiet Koblenz/Trier erworben. Diese Verdienste beruhen aber hauptsächlich darauf, dass Faust der richtige Schlägertyp war. Es gab keine Saalschlacht und keine Schlägerei, bei welcher Faust nicht dabei gewesen wäre. Sogar (…) Gauleiter Simon pflegte bei allen schwierigen Versammlungen Emil Faust zu seinem Schutz heranzuziehen.
Was Faust sonst noch machte, ergibt sich aus einem Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 1. Oktober 1930. Danach hatte er den jüdischen Händler Sally Wolf öffentlich bedroht und mit den Worten beschimpft: „Dreckiger Judenbube, ich zerreiß Dich!“. Als dann Wolfs Ehefrau dazu kam, titulierte sie Faust als „dreckige Sau“. Dafür kassierte Faust eine Geldstrafe von 25 Reichsmark. Als er diese nicht bezahlte, saß er die ersatzweise fünf Tage Gefängnis ab.
Ein anderes Mal hatte es Faust auf Kommunisten abgesehen. Später berichtete ein Betroffener über diesen Vorfall im April 1932 wie folgt:
Ich stand im Frühjahr (…) 1932 mit einigen Personen an der Ecke Eltzerhofstraße/Kastorstraße. Faust kam mit einem Auto (…) vorbeigefahren und hat wahllos auf uns geschossen. Wir liefen alle schnell auseinander und versuchten uns zu verstecken. Ich lief, da es (…) nicht allzu weit war, in meine Wohnung. Kaum war ich durch die Haustüre verschwunden, als auch schon ein Schuss krachte. Faust hatte mich verfolgt und durch die Haustüre geschossen. Ich lief dann in den 2. Stock und schimpfte vom Fenster aus tüchtig auf ihn. Kaum hatte er mich hier gesehen, so schoss er auch schon durch das Fenster.
Faust war der „Schrecken von Koblenz“. Seine Disziplinlosigkeit und seine offene Brutalität waren selbst der SS-Führung in dieser allerletzten Phase der Weimarer Republik und wenige Monate vor der späteren „Machtergreifung“ zu viel. Er wurde dann als „SS-Führer z.b.V. im Stabe der 5. SS-Standarte“ „weggelobt“ und im Stab der Standarte mit Ausbildungsfragen beschäftigt.
So kam es auch, dass Faust in den ersten Wochen nach der sog. Machtergreifung, als im Zuge des Reichstagsbrandes Ende Februar/Anfang März 1933 auch in Koblenz die ersten Kommunisten in „Schutzhaft“ genommen wurden, bei diesen Verhaftungen und den anschließenden Vernehmungen nicht zugegen war.
Aber im Juli 1933 war Faust wieder in Koblenz und als SS-Sturmführer aktiv. Damals gab es eine SS-Kaserne in der Nähe des Clemensplatzes. Das muss der heute noch vorhandene niedrige Anbau an die Bezirksregierung Koblenz (SGD Nord) in Richtung Schloss und in Richtung Neustadt gewesen sein. Heute befinden sich in diesem Bereich Garagen und ein größerer Hof. Über die Ereignisse dort berichtete später ein Betroffener, der Kommunist Arthur Huwe wie folgt:
Hinter einem großen Schreibtisch saß der Standartenführer Jakobi und mich umgaben mehrere SS-Leute, die mit Gummiknüppeln und anderen Schlagwerkzeugen ausgerüstet waren. Dann begann die Vernehmung, und in diesem Augenblick trat auch Emil Faust in den Raum. Noch bevor ich die ersten Fragen beantworten konnte, begann schon die Schlägerei und Faust gab das Signal für die anderen herumstehenden SS-Leute. Man prügelte mich so lange, bis ich bewusstlos zusammenbrach. Als ich erwachte, lag ich vollkommen durchnässt auf dem Fußboden. Man hatte mich also mit (einem) Eimer Wasser aus der Besinnungslosigkeit zurückgeholt. Die Schlägerei ging von neuem los, bis ich dann endlich in einen großen Raum gebracht wurde, wo sich meine (…) Kameraden (…) befanden. Dann wurden einzeln die anderen Häftlinge zur Vernehmung gebracht und kamen in einem ähnlichen Zustand zurück: zerschlagene Gesichter, blutige Lippen, zerrissene Kleider usw. Richard Christ, der neben mir lag und schon mal geprügelt wurde, war das besondere Objekt von Faust geworden. Immer wieder kam er (…) zurück und beschäftigte sich im besonderen mit Richard Christ. Er bearbeitete ihn derart das Gesicht und den Oberkörper mit dem Gummiknüppel, dass er nach kurzer Zeit nicht mehr wieder zu erkennen war; alles war geschwollen und blutunterlaufen. Das ging so weit, dass wir um das Leben des Christ in der Nacht bangten. Es war uns Kameraden möglich, etwas Wasser aufzutreiben, womit wir das Gesicht und den Oberkörper immer wieder kühlten und ihn somit bei Besinnung hielten. Diese Prügelszenen dauerten für mich und einen Teil meiner Kameraden volle drei Tage und drei Nächte, bei der an Schlaf nicht zu denken war, da wir immer wieder herausgeholt und geschlagen wurden. Am dritten Tag gegen Abend wurde ich in das Karmelitergefängnis zurückgebracht (…) R. Christ wurde meines Wissens erst nach acht Tagen, als er ein einigermaßen menschenähnliches Aussehen wiedererlangt hatte, in das Karmelitergefängnis gebracht. Er ist, nach einem ärztlichen Gutachten im Jahre 1935, an den Folgen dieser Misshandlungen im Alter von 38 Jahren in Toulouse/Frankreich gestorben.
Ein anderes Opfer von Faust und seinen SS-Leuten in dieser SS-Kaserne am Clemensplatz gab noch folgendes zu Protokoll:
Die Schwere der Misshandlungen ergibt sich auch daraus, dass aus dem Dachfenster des danebenliegenden Oberpräsidiums zwei Putzfrauen auf die Straße riefen: ‚Hilfe, hier werden Menschen misshandelt!’ Ein SS-Posten ergriff das Gewehr und rief zurück: ‚Wenn Ihr nicht mit Euren Köpfen verschwindet, schieße ich Euch die Köpfe ab!’ Daraufhin fanden (…) die Vernehmungen in der Autohalle statt.
Hier konnten die Schreie durch Motorenlärm übertönt werden.
Mittlerweile war Faust wiederum für Koblenz untragbar geworden. Sein SS-Führer versetzte Faust „nach Börgermoor (…), weil er in der Truppe untragbar ist.“ Börgermoor stand hier synonym für ein im Aufbau befindliches Gesamtsystem der emsländischen Konzentrationslager. Von 1933 bis 1938 betrieben die Nazis in den abgelegenen Ödlandgebieten des Emslandes, nahe der Grenze zu den Niederlanden, insgesamt 15 Lager. In der ersten Phase der Nazi-Diktatur wurden die ersten Emslandlager als Konzentrationslager für die in großer Zahl in „Schutzhaft“ genommenen Regimegegner errichtet. In den Lagern sollten die Häftlinge die Moore kultivieren. Der preußische Ministerpräsident Göring plante langfristig sämtliche politischen Schutzhäftlinge Preußens – man rechnete mit 10.000 – in acht bis zehn Lager im Emsland unterzubringen. Die ersten vier Lager waren Börgermoor, Esterwegen I und Esterwegen II sowie Neusustrum. Im Juli 1933 arbeitete man fieberhaft an der Herrichtung der Lager und stellte das Bewachungspersonal zusammen. Hierzu gehörte dann auch Faust, der selbst erklärte: „Am 11. August 1933 wurde ich zum Lager Esterwegen in Papenburg kommandiert und tat bis (…) September 33 als Adjutant Dienst.“ Kaum war Faust in die Emslandlager aufgebrochen, wurden die ersten „Schutzhäftlinge“ aus Koblenz in die Emslandlager verschleppt. Hierzu heißt es später in dem Urteil gegen Faust u.a.:
Als der Angeklagte sich im Lager II in Esterwegen befand, kamen mehrere Häftlingszüge an. (…)
Am 16. August 1933 kamen die politischen Gegner des Angeklagten aus seiner Heimat Koblenz an, darunter die Zeugen (…). Alle wurden dem Lager III zugeteilt. Mit einem Transport aus Osnabrück gelangten die Zeugen (…) in das Lager II.
Die Häftlinge waren politische Gegner des Nationalsozialismus und gehörten der kommunistischen Partei oder der SPD oder ihren Organisationen an. Außerdem waren einige Juden. Die SS-Männer, welche die Transporte übernahmen, behandelten die Häftlinge im Gegensatz zur Polizei, welche sie bis dorthin begleitet hatte, sehr schlecht. Die SS beschimpfte und misshandelte sie. Kolben, Latten, Zimmermannstöcke, Stahlruten und ähnliche Gegenstände wurden zur Misshandlung der Gefangenen benutzt. Schläge und Tritte begleiteten auch den Marsch und die Fahrt mit dem Lorenzug zum Lager. (…)
Schlecht erging es auch dem Koblenzer Transport. Viele von diesen Häftlingen kannte der Angeklagte aus der Kampfzeit, da er mit ihnen Zusammenstöße gehabt und er auch in der Nachbarschaft mehrerer Kommunisten gewohnt hatte. Bei der Ankunft am Bahnhof war der Angeklagte nicht zugegen. Wie es üblich war, wurden die Häftlinge in den sog. Moorexpress verladen, wobei es schon Schläge, Stöße mit dem Karabiner und Tritte der Wachmannschaften gab. Die im Zuge befindlichen Juden mussten unterwegs aussteigen und einige Kilometer laufen. Dann wurden sie gezwungen, den ersten Wagen zu besteigen und während der ganzen weiteren Fahrt still zu stehen, was bei der schlingernden Fahrt große Schwierigkeiten machte.
Kurz vor dem Lagereingang kam der Angeklagte mit mehreren SS-Männern dem Transport entgegengelaufen mit den Worten: „Wo sind die Koblenzer? Hände hoch“ oder einer ähnlichen Äußerung. Als der Bruder des Zeugen G. sich meldete, sprang der Angeklagte auf die Lore und schlug auf die Häftlinge ein. Dem Zeugen Mü., der sich auf der anderen Lore befand, sagten bezeichnenderweise zwei SS-Männer, er solle die Hand unten lassen und sich hinter ihnen verstecken. Mü. tat dies und blieb dadurch bei dieser Gelegenheit vor Schlägen des Angeklagten verschont, während viele andere von dem Angeklagten mit der Faust geschlagen wurden. (…)
Vor dem Lagereingang mussten sich alle in Reih und Glied stellen, sich in Bewegung setzen und beim Marschieren immer wieder singen: „Alle Vögel sind schon da.“ Im Lager selbst mussten die Häftlinge sich auf dem Marsch hinlegen, auf den Knien rutschen (robben), dann sich wieder auf den Rücken legen und so ging es fort. Dabei wurde von den Wachmannschaften und auch von dem Angeklagten geschlagen. Der Angeklagte rief (…) den Wachmannschaften noch zu: „Die Koblenzer empfehle ich Euch, das sind meine besonderen Freunde.“
Zwischen den Baracken 2 und 3 des Lagers III traten die Koblenzer dann auf Befehl gesondert an. Der Angeklagte kam mit mehreren SS-Männern, stellte sich vor und erklärte: „Das Herz im Leibe lacht mir, wenn ich Euch sehe, Ihr werdet die Heimat nicht wieder sehen.“ (…) Nachdem die Häftlinge einen Teil ihrer Sachen abgegeben hatten, trat der Angeklagte näher an sie heran und schlug den ersten Teil, der am rechten Flügel stand, der Reihe nach. Er ließ auch einige Häftlinge heraustreten und misshandelte sei mit den anderen SS-Männern.
Als die Häftlinge ihre Baracken bezogen hatten, kam der Angeklagte abends in die mit Koblenzern belegte Baracke im Lager III, erklärte, „nun wollten sie sich mal richtig begrüßen“, und verlangte (…), dass die Häftlinge ihn mit „Heil Sturmführer Faust“ begrüßten. Nachdem dies geschehen war, fragte er sie: „Seid Ihr froh, dass Ihr hier seid?“ Als diese Frage auf Verlangen des Angeklagten mit „Ja“ beantwortet war, äußerte sich der Angeklagte dahin, ob das auch vom Herzen komme. Anschließend veranstaltete er einen sog. „Budenzauber“, bei dem die Häftlinge auf Kommando sich in die Betten zu werfen, aus den Betten zu springen und andere Übungen zu machen hatten.
Der Angeklagte war allgemein in den Lagern II und III sehr gefürchtet. Oft trug er eine Reitpeitsche mit sich. Redensarten wie „Du wirst umgelegt werden“ wurden (…) vom Angeklagten häufig gebraucht. Er feuerte die SS-Männer an, die Häftlinge nicht zu sanft zu behandeln. Manchmal führte er einen Hund mit sich, der auch Häftlinge anfiel, ohne dass der Angeklagte diesen Hund gehetzt zu haben braucht.
Aus dieser frühen Zeit des Konzentrationslagers Esterwegen gibt es nur ganz wenige Dokumente hierüber. Eins habe ich vor einigen Monaten hier aus Koblenz erhalten. Es ist eine Zeichnung von dem Lager, die ein ehemaliger Koblenzer „Schutzhäftling“, der seinerzeit im KZ Esterwegen inhaftiert war, angefertigt hatte. Sein Name ist Leonhard Olszewski. Von ihm gibt es aus dieser Zeit ein Selbstporträt. Erhalten habe ich beides von Leonhard Olszewskis Enkelin, Frau Birgit Böttner. Ich bin sehr dankbar dafür. Auf diese Weise kann ich das hier dokumentieren.
Um einen Eindruck von dem Alltag, den Faust den Häftlingen im Konzentrationslager bereitete zu vermitteln, soll hier aus einer bereits im Jahr 1934 in der Tschechoslowakei veröffentlichten Publikation mit dem Titel „Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt…“ zitiert werden. Darin heißt es u.a.:
Dieser SS-Sturmführer Faust wütete im Lager (Esterwegen II) noch fürchterlicher als der Kommandant. (…) Im Lager galt er als geistiger Urheber all der verbrecherischen Gemeinheiten, die in Esterwegen ausgeheckt und durchgeführt wurden. (…) Den Arrestbaracken galt die besondere Aufmerksamkeit von Faust. Er hat die Gefangenen dort fürchterlich geprügelt und gepeinigt. Wenn Gefangene den Arrest verließen, waren sie meist vollkommen menschenscheu geworden. Es dauerte längere Zeit, bis sie wieder mit ihren Kameraden sprachen. Dieser stellvertretende Lagerkommandant, SS-Sturmführer Faust, hat im Rausch Gefangenen ‚Strammstehen’ befohlen und sie dann angepinkelt! Später wurde Faust Kommandant des Lagers V.
Am 27. September 1933 war Faust dann am Höhepunkt seiner Karriere und seiner Macht: Er wurde Kommandant des KZ Neusustrum. Dazu hatte er aus dem KZ Esterwegen II – wie es später hieß – „die brutalsten Leute mit in sein neues Lager“ genommen. Als am 1. oder 2. Oktober 1933 der erste Häftlingstransport für das KZ Neusustrum eintraf, begab sich Faust persönlich zur Bahnstation und empfing die eintreffenden Häftlinge mit den Worten:
Ihr Schweinehunde, Ihr seid hierher gekommen, damit wir Euch erziehen. Ich habe meine Leute angewiesen zu schießen, wenn die geringste Kleinigkeit vorkommt (…) Wir legen unsere größte Ehre darin, möglichst viele von Euch umzulegen und zum Herrgott zu schicken.
Dass das keine leere Drohung war, belegt der Umstand, dass es während der „Amtszeit“ von Faust als Kommandant des KZ Neusustrum dort allein vier offiziell beurkundete Todesfälle gab. Im Übrigen brüstete sich Faust später in einer Koblenzer Wirtschaft, er habe einen Mann im Lager an einer Kette aufgehängt und in einer Grube langsam ertränkt. Da passt es ins Bild, wenn von Faust anlässlich eines Appells folgendes überliefert ist: „Wenn es nach mir ginge, dann würden die Friedhöfe hier viel zu klein sein.“
Diese Willkür und Brutalität von Faust und seinen SS-Leuten kam dann auch bald dem Preußischen Innenministerium zu Ohren und war Anlass zur Abhilfe. Zunächst verfügte das Innenministerium eine Verlegung der jüdischen und der prominenten „Schutzhäftlinge“ aus den Emslandlagern in das KZ Lichtenburg bei Prettin/Elbe. Ende Oktober 1933 wurde dann beschlossen, die SS bei der der Bewachung der Emslandlager durch Polizisten abzulösen.
Als die SS von diesen Plänen erfuhr, wollte sie das keineswegs zulassen. Die SS-Wachen wollten vielmehr – gemeinsam mit den Häftlingen, denen sie in dieser Situation eine Verbrüderung anboten – als „Freikorps Fleitmann“ die bewaffnete Auseinandersetzung suchen und sich nach Österreich durchschlagen. Beim Eintreffen der bewaffneten Schutzpolizisten eröffnete die SS das Feuer und zögerte die Übernahme hinaus. Der Konflikt wurde durch Himmler und Göring bis zu Hitler hinaufgetragen. Der entschied, dass Artillerie des Heeres die Wachen und Häftlinge der Emslandlager erbarmungslos zusammenschießen sollten. Dazu kam es aber nicht. Schließlich sorgte die hohe Polizeipräsenz dafür, dass die SS-Leute ihre Waffen auf einen Haufen warfen und dann am 6. November 1933 das Lager verließen. Durch diesen spektakulären „Wachwechsel“ sahen sich die Häftlinge von der Schutzpolizei aus den Klauen der „entmenschten SS-Bestien“ befreit.
Noch am Abend vor dem Abrücken hatte Faust den Häftlingen wörtlich gesagt: „Freut Euch nicht zu früh. Wir sind noch eine Nacht hier und heute Nacht fließt noch Blut. Es ist für mich und meine Kameraden eine Wollust, wenn wir Euch abknallen können.“ Zwar wurden abends noch die Maschinengewehre auf die Häftlingsbaracken gerichtet, doch kam es nur zu einigen ungezielten Schüssen auf diese Unterkünfte. Dabei blieb es dann auch.
An jenem 6. November 1933 war dann „Reisetag“ für Emil Faust. Er kehrte umgehend nach Koblenz zurück.
Die meisten KZ-Häftlinge, auch die Koblenzer, mussten noch länger in Esterwegen bleiben und im Moor arbeiten. Die ganze Sehnsucht dieser gequälten Menschen nach Freiheit und nach der Heimat wird deutlich in dem bekannten Lied von den Moorsoldaten. Es ist das erste KZ-Lied, es ist sehr bekannt und sehr anrührend. Ich möchte es Ihnen hier vorspielen. Viele Häftlinge wurden dann zu Weihnachten 1933 aus dem KZ Esterwegen entlassen. Für Leonhard Olszewski erfüllte sich die Sehnsucht nach Freiheit erst ca. sechs Wochen später. Am 3. Februar 1934 wurde er endlich aus der Haft entlassen. Hier sehen Sie sein „Führungszeugnis“ aus dem KZ Esterwegen vom 3. Februar 1934. Darin sehen Sie auch die Haftdauer vom 15. August 1933 an. Auch dieses Dokument habe ich von der Familie erhalten. Es ist ziemlich zerfleddert, aber doch noch ganz gut zu erkennen. Leonhard Olszewski hat es in seinen Stiefeln deponiert gehabt. Dadurch hat es stark gelitten.
Doch nun nach diesem kleinen Exkurs über ein Koblenzer Opfer zurück zu Emil Faust. Kaum war dieser nach Koblenz zurückgekehrt, wurde er zum SS-Obersturmführer (= Oberleutnant) befördert. Gleichwohl wusste die SS mit Faust aber nichts rechtes anzufangen, hatte für ihn keine Verwendungsmöglichkeit und so sollte er später als Führer einer Reserveformation in Frage kommen.
Unterdessen machte Faust in Koblenz dort weiter, wo er vor seiner Versetzung in die Emslandlager aufgehört hatte. Anfang 1934 zog er mit seiner Familie dann von der Feste Franz in die Bodelschwingh-Siedlung in Lützel (Bodelschwingh-Straße 5). Mit dem Hausverwalter geriet er schnell in Streit, für ihn war Faust schnell „der gemeinste Strolch im ganzen Rheinland“. Als sich der Hausverwalter bei der Polizei über Faust beschwerte, schlug er ihn so, dass er tagelang das Bett hüten musste. Weiter gab der Hausverwalter später an:
Faust suchte mich am Bett auf und tat gewissermaßen Abbitte, da ich die Sache der Polizei anzeigen wollte. Ich versprach ihm (…), keine Anzeige zu erstatten. Eines Nachts, es war schon gegen Morgen, schellte es an meiner Wohnungstür. Ich stand auf, öffnete und vor der Tür stand Faust mit seiner Frau. Er nahm sie am Arm und warf sie in meine Wohnung mit den Worten: ‚Da hast Du die Sau!’ Als meine Frau ihm über sein Verhalten Vorwürfe machte, setzte er meiner Frau einen Säbel an die Brust. Faust tat die Äußerung, dass ich und meine Frau weg müssten. Ich habe mit Frau Faust insgesamt kaum 50 Worte gesprochen. Faust hatte die Einstellung, dass jeder, der mit seiner Frau mal ein Wort sprach, ein Verhältnis mit ihr haben müsste. Ich erfuhr, dass mich Faust bei der ersten Gelegenheit in das Lager bringen würde (,) und es wurde mir vielseitig angeraten, Mitglied der Partei zu werden, was ich wohl sonst niemals getan hätte. Im April 1934 meldete ich mich zur Partei, um dadurch einer Verfolgung durch Faust zu entgehen.
In der Folgezeit setzte Faust seinen Lebenswandel fort und war Anlass zu Klagen aus der Bevölkerung und auch der SS. Er war wieder einmal untragbar geworden. Um anderen Maßnahmen der SS-Führung zuvor zu kommen, bat Faust um Einstellung in die SS-Verfügungs- bzw. SS-Wachtruppe. Der SS-Oberabschnitt Rhein verwandte sich noch einmal für Faust und leitete dessen Gesuch an das SS-Hauptamt mit gewissem Wohlwollen weiter. In dem Schreiben heißt es u.a.:
(Nach der) Machtübernahme hat Faust versucht, in den verschiedensten Zivilberufen festen Fuß zu fassen, wurde aber stets nach kurzer Zeit aus unterschiedlichen Gründen zur Aufgabe gezwungen. Partei- wie Behördenstellen haben ihr Möglichstes getan, Faust wieder in ein geordnetes Arbeitsverhältnis zu bringen, aber stets nur mit negativem Erfolg, so dass es heute unmöglich erscheint, in hiesiger Gegend eine Arbeitsstelle für Faust zu finden.
Aufgrund seiner alten SS-Zugehörigkeit und seiner unbestreitbaren Verdienste um die Bewegung hält der Oberabschnitt es für erforderlich, sich nochmals helfend für Faust einzusetzen und bittet das anliegende Gesuch des SS-Obersturmführers Faust (…) einer wohlwollenden Prüfung zu unterziehen.
Eine Versetzung aus dem hiesigen Gebiet und damit eine Loslösung aus einer alten, für das Weiterkommen ungeeigneten Umgebung hält der Oberabschnitt für eine unbedingte Voraussetzung, wenn Faust wieder ein nutzbringendes Glied innerhalb der Bewegung werden und somit als alter Staffelmann der SS erhalten bleiben soll.
Statt wohlwollend zu prüfen schrieb der Chef des SS-Hauptamtes, der Faust aus seiner früheren Tätigkeit beim Oberabschnitt Rhein persönlich kannte, an den Oberabschnitt Rhein harsch zurück:
Es ist nicht verständlich, wie der Oberabschnitt den Obersturmführer Faust für eine Verwendung in der Verfügungstruppe (oder in den Wachverbänden) vorschlagen kann.
Faust mag seine Verdienste haben, er ist aber sowohl dem Oberabschnitt Rhein wie auch dem SS-Hauptamt aufgrund seiner Disziplinlosigkeit, seinem Hang zu Schlägereien und der Unmöglichkeit, sich einer Stelle unterordnen zu können, bekannt.
Dem Oberabschnitt sollte bekannt sein, dass für die Verfügungstruppe nur die besten Männer und Führer in Frage kommen. Die Verfügungstruppe und die Wachverbände sind keine Sammelstelle für verkrachte Existenzen.
Das Schreiben schloss mit dem Hinweis: „gegen F. schwebt obendrein ein Verfahren, das ihn wahrscheinlich für die Schutzstaffel untragbar machen wird.“ Tatsächlich gab es beim SS-Gericht in München ein Verfahren gegen Faust. Mit diesem holte ihn sein Vergangenheit im Konzentrationslager Neusustrum wieder ein. Hintergrund war folgender:
In dem Konzentrationslager Esterwegen II, in dem Faust Adjutant des Kommandanten war, war als „Schutzhäftling“ auch ein gewisser Thiel. Er war früher praktischer Arzt, hatte sich erheblicher ehrenrühriger Straftaten schuldig gemacht, er hatte deswegen sogar seinen Doktortitel verloren und war als „Schutzhäftling“ ins KZ Esterwegen II gekommen. Faust hatte Thiel dort kennen gelernt und ihn dann in das neue Lager Neusustrum mitgenommen und als Lagerarzt eingesetzt. Zwischen beiden bestand ein äußerst freundschaftliches Verhältnis. Thiel hat seine Mitgefangenen schwer misshandelt, und zwar auf Veranlassung oder jedenfalls mit Billigung von Faust. Faust hatte ihn auch noch kurz vor dem spektakulären „Wachwechsel“ Anfang November 1933 eigenmächtig aus dem KZ entweichen lassen. Gegen Thiel lief einige Zeit später ein Strafverfahren vor dem Landgericht Osnabrück. In dem Verfahren trat Faust vor Gericht als Zeuge auf. Thiel wurde vom Landgericht Osnabrück zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Gegen Faust wurde seinerzeit strafrechtlich nichts unternommen. Es will scheinen, dass die Nazis einen „Sündenbock“ gesucht und in Thiel gefunden hatten. Die schweren Misshandlungen und Tötungen in den Emslandlagern blieben auch der Bevölkerung vor Ort nicht verborgen. Um diese zu beruhigen, führte man dieses Strafverfahren durch, bestrafte den „Schutzhäftling“ Thiel und konnte damit die „Botschaft“ herüber zu bringen versuchen, dass diese Misshandlungen vor allem von „Schutzhäftlingen“ selbst aneinander verübt worden seien – und nicht von dem SS-Wachpersonal – und dass man strafrechtlich auch noch hart durchgriff. Wenn Faust deswegen im Zuge des Verfahrens gegen Thiel auch nicht mit einem Strafverfahren überzogen wurde, so hatte das Verfahren gegen Thiel für ihn als SS-Mann doch disziplinarrechtliche Konsequenzen. Unter dem Datum des 10. März 1936 wurde von Himmler Fausts Degradierung und Ausschluss aus der SS verfügt. Zur Begründung hieß es u.a.:
Sie haben als Kommandant des Konzentrationslagers Neusustrum Ihre Dienstpflichten in gröblichster Weise verletzt, insbesondere den Schutzhäftling Thiel eigenmächtig aus der Schutzhaft entlassen und als Lagerarzt eingesetzt.
Ferner ist trotz Ihres hartnäckigen Leugnens nach dem Ergebnis der Untersuchung als feststehend anzusehen, dass Sie von den im Lager vorgekommenen Misshandlungen von Schutzhäftlingen durch SS-Angehörige gewusst und diese gedeckt haben. Das gleiche gilt bezüglich Ihres Mitwissens von dem sadistischen Treiben des von Ihnen als Lagerarzt eingesetzten ehemaligen Schutzhäftlings Thiel. Schließlich sind Sie trotz Ihrer Beurlaubung unter Verbot des Tragens des Dienstanzuges zu der Hauptverhandlung gegen Thiel am 24. Oktober 1935 vor dem Landgericht Osnabrück im Dienstanzug erschienen und haben dadurch gegen das Beurlaubungsverbot und zugleich gegen den Befehl des Reichsführers-SS Nr. 13 Ziffer 6 im SS-Befehlsblatt vom 25. November 1934, wonach den SS-Angehörigen in allen Fällen das Erscheinen vor Gericht im Dienstanzug streng verboten ist, verstoßen. Vom Vertreter des SS-Gerichts deswegen dienstlich zur Rede gestellt, haben Sie sich durch Lügen herauszureden versucht.
Durch Ihr Verhalten haben Sie bewiesen, dass Sie trotz Ihrer langen Zugehörigkeit zur SS und Ihrer Verdienste um die Bewegung nicht mehr würdig sind, der SS anzugehören.
Im folgenden Jahr – 1937 - wurde Faust auch noch aus der NSDAP ausgeschlossen. Die Begründung dafür gibt ein interessantes Bild vom Privatleben dieses „Volks- und Parteigenossen“. Sie soll deshalb hier eingehend zitiert werden:
1.) Sie haben am 13. Dezember 1936 (…) ohne jeglichen Grund den der Frau (…) gehörigen Waschkessel mit Wäsche zum Fenster hinausgeworfen. Hierüber von der Frau (…) zur Rede gestellt, haben Sie diese Frau durch die Worte ‚Du Drecksau’ beleidigt und durch Schläge misshandelt. Ferner haben Sie bei dieser Gelegenheit, auch wiederum ohne jede Veranlassung(,) den SA-Mann (…) durch Fußtritte gegen den Unterleib schwer misshandelt. Sogar haben Sie in der Ihnen anscheinend angeborenen, unglaublichen Brutalität nicht davor zurückgeschreckt, auch das 15-jährige Mädchen (…) und die 61 Jahre alte Frau (…), letztere durch Fußtritte, zu misshandeln. Auch die beiden zuletzt genannten Personen hatten auch nicht den geringsten Anlass zu Ihrem unglaublichen Vorgehen gegeben.
Durch diesen neuen Vorfall haben die bereits seit Jahren ununterbrochen von Ihnen verübten Gewalttätigkeiten, Sachbeschädigungen, Bedrohungen und teilweise schwersten Misshandlungen friedlicher Volksgenossen einen solchen Grad erreicht, so dass nun weitere Rücksichtnahme auf Ihre Person als altes Parteimitglied – auch unter Berücksichtigung Ihrer Verdienste vor der Machtübernahme – sich in keiner Weise mehr rechtfertigen lässt. In letzter Zeit steht sogar der ganze Häuserblock, in dem Sie wohnen, unter Ihrem Terror, Bedrohungen und Misshandlungen Ihrerseits sind an der Tagesordnung.
Der Vorfall (…) am Sonntag, dem 13. Dezember 1936, zeigt wieder einmal, mit welcher rücksichtslosen Brutalität und Gewalt Sie gegen jeden Mitbewohner vorgehen, ganz gleichgültig, ob er Partei- oder Volksgenosse ist, ob es sich um eine weibliche oder männliche Person, um ein Kind oder eine Frau von 61 Jahren handelt.
2.) Hat Ihr Verhalten an dem fraglichen Sonntag Ihrer Familie gegenüber zum unzähligsten Male wieder die hellste Empörung unter den Anwohnern der Bodelschwingh-Siedlung hervorgerufen. Nicht nur, dass Sie bisher fast noch nie für Ihre 9-köpfige Familie gesorgt haben, ist Ihre bedauernswerte Frau dauernd den schwersten Misshandlungen ausgesetzt, so dass sie in einem Falle schon mehrere Wochen im Krankenhaus Kemperhof gelegen hat. Es ist unmöglich, einzelne Fälle aus Ihrem Familienleben schriftlich niederzulegen, ohne das normale Empfinden eines anständigen Menschen zu verletzen. Feststeht, dass Sie an dem fraglichen Sonntag, an dem Sie Ihre Mitbewohner misshandelt haben, mittags bevor Sie fort gingen, Drohungen gegen Ihre Frau ausgestoßen haben, Sie würden Ihre Frau nach Ihrer Rückkehr am Abend misshandeln. Ihre Frau ist daraufhin aus Angst geflohen und hat ihre acht Kinder – das jüngste ein Jahr alt – ohne Aufsicht zurücklassen müssen. Die Kinder sind, da Sie wegen der Misshandlungen der Anwohner durch die Polizei festgenommen wurden und Ihre Frau aus Angst nicht zurückkehrte, auch in der Nacht (…) ohne jede Aufsicht gewesen. Ihre Frau hat durch den Vorfall (…) einen Nervenzusammenbruch erlitten und ist ins Krankenhaus gekommen. Ihre Kinder mussten, da Sie sowieso dafür nicht sorgen, ins Waisenhaus untergebracht werden.
Es ist nur ein Fall von den vielen Gewalttätigkeiten gleicher Art, die Sie in den letzten Jahren verübt haben. Sie haben durch Ihr ganzes Verhalten nun schon seit Jahren hindurch ein solch Partei schädigendes Verhalten an den Tag gelegt, dass ein weiteres Verbleiben in der NSDAP unmöglich ist. Die Partei- und Volksgenossen müssten an der Partei irre werden und jedes Vertrauen zu der Bewegung verlieren, wenn ein solcher Parteigenosse noch weiter Mitglied der NSDAP sein dürfte.
Ungeachtet dieses vernichtenden Urteils bemühte sich Faust wiederholt um die Wiederaufnahme in die SS. Das gelang ihm aber nicht.
Trotzdem blieb Faust ein brutaler Schläger und hielt – wie die NSDAP-Gauleitung Koblenz-Trier hervorhob – „auch nach seinem Ausschluss der Bewegung die Treue“. Ein Beispiel dafür war die Beteiligung Fausts an der sog. Reichspogromnacht hier in Koblenz. Hierzu machte nach dem Krieg in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Koblenz ein hieran Beteiligter u.a. folgende Aussage:
An der im November 1938 stattgefundenen Judenaktion habe ich mich aktiv beteiligt und gebe dazu folgende Erklärung ab:
Zu der Zeit der Judenaktion wohnte ich in Koblenz, Josefstraße. Am 10. November 1938 etwa gegen morgens 8 Uhr verließ ich meine Wohnung, um mich zum Arbeitsamt zu begeben, ich war zu dieser Zeit erwerbslos. Ich ging durch die Hohenzollernstraße, Markenbildchenweg, Löhrstraße bis Ecke Roonstraße. Hier stieß ich auf den SS-Sturmführer Emil Faust, Peter K., SS-Oberscharführer J., SS-Obertruppführer E., SS-Sturmführer Fritz St. und Hermann K.
K. und Faust forderten mich auf mitzukommen und auf meine Frage „wohin“ erhielt ich zur Antwort: „Das wirst Du schon sehen“. Ich muss noch bemerken, dass der größte Teil dieser von mir benannten Leute entweder mit einer Axt, einem Beil oder einem Brecheisen ausgerüstet war. Alle trugen sie Zivil. Ich schloss mich diesen Leuten an.
Wir begaben uns in das Haus Ecke Roonstraße – Löhrstraße in den 2. Stock, woselbst ein Jude namens Cohn wohnte. Da diese Wohnung verschlossen war, wurde sie von uns aufgebrochen. Wir begaben uns in die Wohnräume und zerstörten die gesamte Wohnungseinrichtung. An dieser Zerstörung habe ich mich aktiv beteiligt. Mittels Äxten und Beilen wurde die gesamte Wohnungseinrichtung zerschlagen. In einem Wohnzimmer befand sich ein Flügel, dieser wurde von K. mittels einer Axt entzwei geschlagen. Diese Zerstörung nahm etwa 20 Minuten in Anspruch.
Von da aus begaben wir uns in die Wohnung des Dr. Landau, Ecke Roon-/Hohenzollernstraße. Der Genannte wohnte im Parterre. Nachdem wir an der Wohnungstür geschellt hatten, wurde uns durch eine weibliche Person geöffnet. Und nachdem wir sagten, dass hier der Jude Landau wohnen würde, begaben wir uns in die Wohnung und zerstörten ebenfalls die ganze Einrichtung. An dieser Zerstörung habe ich mich ebenfalls aktiv beteiligt. Auch in diesem Falle wurde mit Äxten, Beilen und Brecheisen das Mobiliar zerstört.
Nach dieser Zerstörung, die etwa 20 Minuten in Anspruch nahm, begaben wir uns zur Löhrstraße 137 in die 3. Etage. Dortselbst wohnte eine Jüdin, die nicht anwesend war. Wir erbrachen die Wohnung, drangen ein und da wir feststellten, dass diese Jüdin in ziemlich ärmlichen Verhältnissen lebt, nahmen wir von einer Zerstörung Abstand.
Von hier aus begaben wir uns zum Hotel Continental in die Privatwohnung des Besitzers Meyer, der im 4. Stock wohnte, und dort zerstörten wir auch die gesamte Wohnungseinrichtung, woran ich mich ebenfalls beteiligte.
Nach dieser Tatausführung begaben wir uns nach dem Hause Josefstraße 14 und zerstörten die Wohnung des Juden Nathan Gutmann. Auch an dieser Zerstörung nahm ich teil. Als wir das Haus Josefstraße verließen, kam ein Mann von der SA-Gruppe mit der Meldung, dass die Judenaktion einzustellen sei. Dies war etwa gegen 12 Uhr mittags.
An der Ecke Mainzerstraße trennte ich mich von dem Zerstörungstrupp, ging nach Hause, während sich die anderen zur SA-Gruppe begaben. Bei sämtlichen Zerstörungen haben sich in allererster Linie K., Faust, E. und St. hervorgetan und rücksichtslos mit ihren Äxten alles zerschlagen.
Sonst kann ich zu der Angelegenheit nichts sagen. Ich weiß, dass ich mich durch meine Teilnahme strafbar gemacht habe. Ich bereue es heute, dass ich mich zu diesen Zerstörungen habe mit hinreißen lassen.
Sehr bald nach dem Pogrom fand dieser brutale Schläger und Kommandant eines Konzentrationslagers dann doch noch eine Anstellung. Und zwar wurde er Hausmeister in der Volksschule in der Handwerkerstraße in Neuendorf – heute Willi-Graf-Schule. Ob die Schulleitung und die Schüler mit Faust als Hausmeister zufrieden waren, ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass Faust selbst sehr frustriert war. Ein Rektor und Koblenzer NSDAP-Kreisamtsleiter äußerte sich über Faust 1940 wie folgt:
Faust hat wiederholt (…) zum Ausdruck gebracht, es käme eine neue Revolution innerhalb der Partei, es wären doch alles Bonzen, die in den Sesseln säßen und mit den Autos führen, während die, die in der Kampfzeit die Wunden davon getragen hätten, lediglich Hausmeister werden könnten. Faust spielte damit in seiner unverkennbaren Unzufriedenheit auf seine eigene Lage an, obwohl er meines Erachtens in wirtschaftlich durchaus erträglichen Verhältnissen lebte.
Offenbar aus dieser Frustration heraus begann Faust gegen einen anderen SS-Mann zu intrigieren. Dieser war seinerzeit zusammen mit Faust in den Emslandlagern und war damals noch Fausts Untergebener, inzwischen hatte er Karriere gemacht und war Führer einer SS-Standarte. Während andere Verfehlungen Fausts keinerlei Konsequenzen für ihn hatten, wurde es hierbei – weil es wieder den internen Bereich der SS betraf – Ernst. Die SS sah das als „Zersetzung“ an und drohte ihm mit der Einweisung in ein Konzentrationslager. Der SS-Oberabschnitt Rhein teilte dem SS-Hauptamt 1941 mit: „SS-Oberabschnitt Rhein wird Faust, falls er seine Zersetzungen nicht einstellt, durch die Gestapo in Schutzhaft nehmen lassen. Keinesfalls kann dieses Verhalten weiter geduldet werden, da gerade in dem Gebiete von Koblenz die SS an Ansehen Einbußen erleiden musste.“
Die eigene Einweisung in ein Konzentrationslager blieb Faust erspart. Allerdings gelang es ihm auch nicht, wieder in die SS aufgenommen zu werden. Im Herbst 1943 meldete er sich freiwillig zur Waffen-SS zum Einsatz im Osten, „um als früherer alter Kämpfer der SS durch Frontbewährung wieder vollwertiger SS-Mann zu werden und zu bleiben.“ Doch auch dieses Gesuch wurde abschlägig beschieden. Im Februar 1944 wurde ihm mitgeteilt: „Der Reichsführer-SS, Hauptamt SS-Gericht hat mit Entscheid vom 27. Januar 1944 ihre Einziehung zur Waffen-SS abgelehnt. Es wird Ihnen anheim gestellt, sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden und, Frontbewährung vorausgesetzt, ein Wiederaufnahmegesuch nach Kriegsende erneut einzureichen.“
In den letzten Kriegsmonaten hat Faust mit seiner Familie, inzwischen waren es 12 Kinder geworden, Koblenz verlassen und hatte sich nach Thüringen begeben und war dann von dort aus nach Emden gelangt. In einer Barackensiedlung in Emden wurde er am 13. Juli 1946 von der britischen Militärregierung „wegen seiner Tätigkeit im Lager“ festgenommen.
Sowohl die Staatsanwaltschaft in Koblenz als auch die Staatsanwaltschaft in Osnabrück ermittelten gegen Faust. Inzwischen war Faust wie es hieß „lebensgefährlich erkrankt“, so dass „mit seinem baldigen Ableben gerechnet“ wurde. Immerhin besserte sich sein Zustand, so dass er verhandlungsfähig war. Er konnte aber nicht nach Koblenz verbracht werden. Deshalb wurde Faust der Prozess „wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und Körperverletzung im Amt“ vor dem Schwurgericht in Osnabrück gemacht. Bei der umfangreichen Beweisaufnahme traten auch viele Koblenzer, die von Faust in Koblenz bzw. im Konzentrationslager misshandelt und gequält worden waren, als Zeugen auf. Faust bestritt alle Anschuldigungen mit „das stimmt nicht“ oder „ich kann mich nicht erinnern“. Am Tag der Urteilsverkündung räumte er dann doch Misshandlungen ein, stritt aber weiterhin ab, etwas mit der Erschießung von Häftlingen zu tun gehabt zu haben. In seinem Schlusswort bat Faust um „mildernde Umstände“. Dabei verwies er auf seine große Familie und darauf, dass er ein erbitterter Gegner des Kommunismus gewesen und es auch heute noch sei“. Der Hinweis auf seine antikommunistische Einstellung war taktisch klug gewählt. Das war im Zeichen des Kalten Krieges sehr oft ein Grund für eine sehr wohlwollende Behandlung und milde Bestrafung. Bei Faust half aber selbst dieses Bekenntnis nichts.
Mit Urteil des Landgerichts – Schwurgerichts – Osnabrück vom 6. November 1950 wurde Emil Faust wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit in einem Falle mit Mord sowie in Tateinheit in 33 Fällen mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung, davon in einem Fall (…) mit Todesfolge und in diesem zugleich mit fahrlässiger Tötung zu lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Die von Faust hiergegen eingelegte Revision blieb im Wesentlichen erfolglos – und zwar deshalb, weil die Verurteilung wegen Mordes einer revisionsgerichtlichen Überprüfung standhielt.
Seine Strafe verbüßte Faust im Zuchthaus in Celle. Auf ein Gnadengesuch hin wurde er am 15. Dezember 1965 vorzeitig aus der Haft entlassen. Vier Monate danach starb Faust am 13. April 1966 in Emden.