Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig.
In seinem Vortrag bei der Veranstaltung beschäftigte sich Hennig mit der strafrechtlichen und personalpolitischen Aufarbeitung der NS-Justiz und deren Juristen nach dem Krieg im neu entstandenen Bundesland Rheinland-Pfalz. Anhand zahlreicher Lebensläufe und Beispiele berichtete er in dieser Form zum ersten Mal vom Scheitern dieser "Vergangenheitsbewältigung" und von Kontinuitäten des Justizpersonals in Rheinland-Pfalz.
Lesen Sie nachfolgend den Vortrag:
Die Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz
Vortrag von Joachim Hennig am 27. Februar 2018 in Mainz
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, wieder mit einem Vortrag in der Landeszentrale für politische Bildung zu sein. Diesmal wurde ich zum Thema „Bestrafung von NS-Juristen“ eingeladen. Der interessierten Öffentlichkeit – also auch Ihnen meine Damen und Herren – ist seit längerem bekannt, dass eine Bestrafung von NS-Juristen in der frühen und auch späteren Bundesrepublik Deutschland nicht stattgefunden hat. Eine Wegmarke zu dieser Erkenntnis war etwa der „Fall Filbinger“. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hatte den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Hans Filbinger 1978 wegen dessen Tätigkeit als NS-Militärrichter als „furchtbaren Juristen“ bezeichnet und dieser hatte sich – uneinsichtig bis zuletzt – dagegen mit dem berühmten Satz gewehrt: „Was damals Recht war, kann nicht heute Unrecht sein.“ Eine der ersten Publikationen war dann die von Walter Seiter und Alphonse Kahn: „Hitlers Blutjustiz – ein noch zu bewältigendes Kapitel deutscher Vergangenheit“. Die 1981 erschienene Schrift ist nicht so bekannt, sie muss aber hier erwähnt werden, Näheres später. Weitere Wegmarken waren 10 Jahre später das Buch von Ingo Müller „Furchtbare Juristen“, die Ausstellung des Bundesministers der Justiz „Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus“ und auch die Dokumentation von Jörg Friedrich „Freispruch für die Nazi-Justiz“.
Angesichts dieser Rezeptionsgeschichte, die erst um 1980 richtig begonnen hatte, dann aber bald Fahrt aufnahm, muss man schon begründen, weshalb man sich jetzt, fast 4 Jahrzehnte später, nochmals dieser Geschichte annimmt – zumal sie zwar auch durch „1968“ angestoßen wurde, aber doch erst später richtig und auch – das werden wir noch hören – schon früher begonnen hatte. Hier soll das, was damals erforscht und beschrieben wurde, nicht erneut in einer dreiviertel Stunde schlaglichtartig herausgestellt werden. Es soll keinen dünnen Aufguss früherer Publikationen geben. Vielmehr werden Sie etwas zur Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz heute - 73 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus – hören, was Sie bisher so nicht hören oder lesen konnten. Es gibt zwar das eine oder andere, das in dieses Thema hineinspielt, aber das ist nicht so zusammengefasst wie hier - es ist deshalb bislang unbekannt, vergessen und verdrängt.
Versetzen wir uns also in die Zeit vor 73 Jahren, in das Frühjahr 1945. Im März 1945 wurden das Rheinland von den Amerikanern befreit, am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation des Deutschen Reiches zu Ende. Vier Wochen später, Anfang Juni 1945, wurde als eines der ersten Gerichte in Deutschland das Landgericht Koblenz wieder eröffnet.
Das war die sog. Stunde Null. Die Justiz wurde gebraucht. Die Juristen – Richter und Staatsanwälte – waren auf ihrem Posten Manche von ihnen, die in der Zwischenzeit auswärts tätig waren, kamen nach und nach zurück, manche auch viel später.
Und was machten die Juristen? Die machten weiter ihre Arbeit und davon gab es genug. Die Franzosen, inzwischen Besatzungsmacht im heutigen Rheinland-Pfalz, betrieben die politische Säuberung wie die Amerikaner ebenfalls mit Fragebögen, sie waren aber nicht von jedermann, sondern nur von bestimmten Personengruppen, u.a. den Beschäftigten im öffentlichen Dienst, auszufüllen. Auch nicht jedes Mitglied der NSDAP wurde entlassen. Probleme hatten Juristen ggf. wegen ihrer früheren Betätigung, etwa im besetzten Frankreich oder als Richter an Sondergerichten – sofern diese Tätigkeit bekannt wurde. So wurde etwa ein Richter beim Landgericht Koblenz, der zuvor in Frankreich tätig war, aus dem Staatsdienst entlassen. Er konnte sich aber als Rechtsanwalt niederlassen und wurde einer der maßgeblichen Nachkriegs-Rechtsanwälte. Auch gab es für manche Richter und Staatsanwälte wegen ihrer NS-Belastung eine Berufssperre von 2 - 3 Jahren. Danach waren sie aber wieder tätig, vielleicht in einem niederen Amt – aber mit der Möglichkeit der Bewährung und der Fortsetzung der Karriere. Vielen geschah gar nichts. Für aus der Kriegsgefangenschaft Zurückkehrende gab es Sonderregelungen und damit nur in den schwerwiegendsten Fällen überhaupt ein Entnazifizierungsverfahren.
Wie die Aufarbeitung in Theorie und Praxis im Justizministerium Anfang 1948 aussah, möchte ich Ihnen jetzt vorführen. In der Debatte des Landtages zur NS-Justiz hielt der damalige Justizminister Dr. Adolf Süsterhenn die folgende Rede:
Die Justiz ist diejenige Institution, die zwischen 1933 und 1945 nächst der Kirche am meisten vom Nationalsozialismus angegriffen und bekämpft worden ist, jedenfalls unter den Organisationen und Institutionen, die zurzeit des Nationalsozialismus noch real vorhanden waren. Ich bitte das zu bedenken. Ich bitte Sie, mir einen Berufsstand, ich bitte Sie, mir eine Verwaltung zu nennen, die derart den nationalsozialistischen Angriffen ausgesetzt war wie gerade die Justiz, und ich bitte Sie, mir erst recht einen anderen Teil der Staatsverwaltung zu nennen, der die Ehre gehabt hat, durch Herrn Hitler persönlich im Reichstag derart gebrandmarkt zu werden, wie es mit der Justiz geschehen ist. Diese dauernden Angriffe gegen die Justiz wären niemals erfolgt, wenn die Justiz nicht in ihrer Art genügend Widerstand geleistet und dem Nationalsozialismus mehr Sand in die Maschine gestreut hätte, als ihm lieb gewesen ist.
Zur selben Zeit, Januar/Anfang Februar 1948, schlug der Justizminister den Landgerichtsrat Dr. Gerhard Meyer-Hentschel zum Beförderung zum Oberregierungsrat vor. Vor dem Krieg war Meyer-Hentschel Landgerichtsrat in Koblenz dann zum Militärdienst eingezogen worden. Bald wurde er Kriegsgerichtsrat in der nordfranzösischen Hafenstadt St. Nazaire. St. Nazaire war eine Stadt des sog. Atlantikwalls und nach der Landung der Alliierten in der Normandie von Hitler zur Festung erklärt worden. 35.000 deutsche Soldaten waren von den alliierten Truppen eingeschlossen und belagert. Zu einer Erstürmung kam es aber nicht. Die Stadt wurde vom Atlantik versorgt und hielt sich bis Anfang Mai 1945. Dann gingen die deutschen Soldaten, unter ihnen auch Militärrichter Meyer-Hentschel, in französische Gefangenschaft.
Schon im Frühjahr 1946 bemühte sich die Justiz im Land um seine Entlassung. Im Juni 1947 kam er aus der Gefangenschaft frei und wurde ohne Prüfung zwei Wochen später Referent im Justizministerium. Nach einem halben Jahr, im Januar/Anfang Februar 1948 zurzeit der Etatdebatte, schlug ihn Süsterhenn zur Beförderung zum Oberregierungsrat vor. Zur gleichen Zeit, am 4. Februar 1948, wurde Meyer-Hentschel von der französischen Sureté verhaftet und in das Militärgefängnis von Paris gebracht. Dessen ungeachtet bat Ministerpräsident Altmeier Ende Februar 1948 den französischen Gouverneur von Rheinland-Pfalz um die Zustimmung zur Beförderung von Meyer-Hentschel. Der Gouverneur zeigte sich daraufhin sehr verwundert und verwies auf die Verhaftung des zu Befördernden.
Gegen Meyer-Hentschel gab es in Frankreich ein Ermittlungsverfahren wegen eines Urteils, mit dem ein fahnenflüchtiger deutscher Matrose und ein ihm helfender Franzose im August/September 1944 zum Tode und ein helfender französischer Bauer zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Meyer-Hentschel stritt zunächst eine Beteiligung an dem Verfahren ab, tatsächlich war er aber Vertreter der Anklage gewesen. Das Nachkriegsverfahren gegen ihn wurde nach 1 ½ Jahren im September 1948 ohne Begründung eingestellt. Er kehrte aus der Haft nach hier zurück und wurde sofort wieder im Justizministerium weiterbeschäftigt. Eine Prüfung erfolgte nicht, obwohl Anlass bestanden hätte. Denn die Franzosen waren nur an der Tätigkeit der Kriegsgerichte gegen Franzosen interessiert, nicht aber an der gegen deutsche Soldaten. Zudem hatte ein französischer Priester, der Meyer-Hentschel einen „Persilschein“ ausgestellt hatte, ausdrücklich erklärt, dieser sei sehr streng gegen deutsche Soldaten gewesen. Im Übrigen ging es um eine längere Tätigkeit Meyer-Hentschels als Kriegsgerichtsrat, bis die deutsche Besatzung Anfang Mai 1945 in Gefangenschaft kam: Da hätte es einiges zu untersuchen gegeben. Immerhin war man ja schon zufällig auf zwei Todesurteile gestoßen.
Aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr beantragte Justiz-minister Süsterhenn Ende März 1949 erneut Meyer-Hentschels Beförderung zum Oberregierungsrat. Er wurde dann im Juli 1949 Oberregierungsrat und im November desselben Jahres Leiter der Gesetzgebungsabteilung im Innenministerium. Im Jahr 1951 wurden Süsterhenn Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Meyer-Hentschel Vorsitzender des zweiten Senats dieses Gerichts, dort gab es damals insgesamt zwei Senate. Meyer-Hentschel war seitdem auch am Gericht Süsterhenns rechte Hand. 1957 wurde er Vizepräsident des Gerichts und 1961 – nach Süsterhenns Wechsel als Bundestagsabgeordneter in die Bundespolitik – Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofs, also höchster Richter im Land.
Nicht so glimpflich kamen andere Juristen wegen ihrer Tätigkeit außerhalb des Deutschen Reichs davon. Ein Beispiel ist der Erste Staatsanwalt Josef Abbott. Abbott war zunächst 1940/41 bei der Staatsanwaltschaft Koblenz und dann in Trier tätig, um im Frühjahr 1941 in das besetzte Polen zu gehen und Staatsanwalt beim Sondergericht Danzig zu werden. Dort war er für Kriegswirtschaftsstraftaten, wie Schwarzhandel, gestohlene Hühner u.ä., zuständig. Ein ehemaliger Justizbeamter beim Sondergericht Danzig berichtete später über Abbott wie folgt:
Der von mir verdächtigte Abbott war, trotzdem er gehbehindert war (durch einen Klumpfuß), schon am Anfang des Krieges bei der Danziger HJ in führender Stellung. Als Staatsanwalt war er der „Danziger Freisler“, der „Danziger Blutanwalt“ usw. genannt. Nach der Einrichtung der Hinrichtungsstätte in Danzig im Jahre 1943 wurde diese besichtigt. Hierzu kamen auch alle Staatsanwälte. Das von der Strafanstalt Berlin-Tegel gelieferte Fallbeil wurde von den besichtigenden Staatsanwälten ausprobiert, indem ein Justizwachtmeister, der für die kommenden Hinrichtungen als „Henkerhelfer“ vorgesehen war, einen sehr starken Vollgummireifen ohne Drahteinlage unter das Fallbeil legte. Das herunterfallende Beil zerschnitt diesen Reifen glatt.
Ein Besichtigender fragte die Anwesenden nun: „Na, wer liefert uns den ersten Delinquenten?“ Wie aus einem Munde riefen alle Staatsanwälte: „Natürlich Abbott!“ Worauf Abbott sagte: „Ja, selbstverständlich, das lasse ich mir nicht nehmen, das Fallbeil wird durch mich stark in Anspruch genommen, dann brauche ich nicht immer die Opfer nach Königsberg zur Hinrichtung schicken.“ Abbott war der gefürchtetste Staatsanwalt beim Sondergericht und man sprach damals in Beamtenkreisen darüber, dass 90% der Opfer, die durch den Antrag Abbotts zum Tode verurteilt und auch hingerichtet wurden, entweder unschuldig waren oder aber nicht die Todesstrafe als Sühne hätten bekommen dürfen.
Nach Kriegsende kehrte Abbott in das Rheinland zurück. Bereits im Februar 1946 bewarb er sich um die Wiederverwendung als Staatsanwalt in Koblenz. Zu diesem Zweck betrieb er seine Entnazifizierung. Ihr Ergebnis war eine Zurückversetzung vom Staatsanwalt zum Hilfsstaatsanwalt und eine 20%ige Gehalts-kürzung auf die Dauer von drei Jahren. Im Juli 1947 war Abbott wieder Hilfsstaatsanwalt. Dann wurde er an Polen ausgeliefert und ein polnisches Gericht verurteilte ihn 1950 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft. Im Mai 1955 war er wieder hier – als Spätestheimkehrer – und sechs Wochen später wieder in Amt und Würden bei der Staatsanwaltschaft Koblenz.
Juristen waren nicht nur im Osten tätig, sondern auch im Westen. Koblenzer bzw. Trierer Juristen halfen im besetzten Luxemburg mit, dort eine umfangreiche deutsche Strafgerichtsbarkeit aufzu-bauen. Es gab ein „normales“ Landgericht, ein Sondergericht und dieses Sondergericht hatte dann zwei Abteilungen. Eine Abteilung war für die für Sondergerichte üblichen Verfahren zuständig und die zweite Abteilung trat als Volksgerichtshof auf, war also auch zuständig für die Hoch- und Landesverratsverfahren in Luxemburg. Schließlich gab es das berüchtigte polizeiliche Standgericht, das ad hoc für Straftaten im Zusammenhang mit dem sog. Luxemburger Generalstreik Ende August/Anfang September 1942 zusammentrat und innerhalb von 10 Tagen 20 Todesurteile fällte. In wechselnden Funktionen waren an diesen Gerichten mehrere Juristen tätig: u.a. der Erste Staatsanwalt Leonhard Drach, Landgerichtsdirektor Adolf Raderschall, Staatsanwalt Josef Wienecke und Landgerichtsrat Dr. Otto Bauknecht.
Während Raderschall wo auch immer untergetaucht war, waren die drei anderen wieder hier im Land tätig und wurden Ende der 1940er Jahre an Luxemburg ausgeliefert. Raderschall wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt, Drach erhielt 35 Jahre und Bauknecht vier Jahre Freiheitsstrafe. Wienecke war sehr clever. Er hatte um Weihnachtsurlaub gebeten, hatte den auf Ehrenwort auch bekommen und war dann in Koblenz geblieben. Das Urteil gegen ihn über 10 Jahre Freiheitsstrafe erging in Abwesenheit.
Während Bauknecht und Drach im Gefängnis in Luxemburg einsaßen, hatten sich die Zeiten geändert. Nicht nur der Kalte Krieg und der Koreakrieg hatten begonnen, es gab auch Anstrengungen, Westeuropa wirtschaftlich und politisch ein Stück weit zu einen. Dazu passte es nicht, die NS-Verbrecher in Luxemburg weiter ihre Strafe verbüßen zu lassen – zumal die Hauptkriegsverbrecher von Nürnberg – soweit sie nicht hingerichtet worden waren – nach und nach entlassen wurden. Zu Weihnachten 1954 ließen die Luxemburger Drach frei. Ihr Justizminister kommentierte das mit den Worten: „Wir haben den Dreck über die Mosel abgeschoben.“
Bei uns angekommen, bemühten sich diese Juristen um eine Wiedereinstellung in die rheinland-pfälzische Justiz. Der Ehrenwort brüchige Wienecke war ja schon längst wieder in Amt und Würden bei der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz und auch die drei anderen schafften es. Das Justizministerium war nicht begeistert, meinte aber keinen Grund zu haben, die Wiedereinstellung zu versagen. Gewisse Hemmungen hatte man allerdings, Drach gerade in Koblenz tätig werden zu lassen – zu bekannt war dort sein Wirken in der NS-Zeit insonderheit in Luxemburg. Da verfiel man auf die Idee eines Tauschhandels. Die Justiz in Nordrhein-Westfalen hatte ebenfalls einen stark belasteten Juristen, den man nicht so gern im Land wieder anstellen wollte. Da bot es sich an, den Rheinland-Pfälzer Drach in NRW und umgekehrt den nordrhein-westfälischen Juristen in Rheinland-Pfalz anzustellen. So gut die Idee auch erschien, so ließ sie sich nicht verwirklichen, weil NRW letztlich nicht mitspielte. Danach blieb nur eine Anstellung in Rheinland-Pfalz übrig. Um wenigstens etwas Distanz zur NS-Geschichte zu schaffen, wurde Drach Staatsanwalt nicht in Koblenz, sondern in Frankenthal. Auch der wieder aufgetauchte Raderschall kam in der Pfalz als Amtsrichter in Kaiserslautern unter. Bauknecht wurde 1956 Präsident des Landgerichts Bad Kreuznach und alsbald Präsident des Landesprüfungsamtes für Juristen.
Drach wurde ein Leistungsträger der Frankenthaler Staatsanwaltschaft. In seiner dienstlichen Beurteilung von 1957 hieß es:
Er ist ein besonders befähigter, recht beweglicher, klardenkender Staatsanwalt alter Schule. (…) Sein hohes Verantwortungsbewusstsein führt ihn von morgens bis in die späten Abendstunden an seinen Schreibtisch. (…) In der Ausbildung der Referendare gibt Drach sein Bestes. (…) Drach ist ein aufgeschlossener, bescheidener, stets gleichbleibend freundlicher Mensch, von offenem, durchaus anständigem Charakter und sehr gediegener Lebensauffassung. (…) Nach seinen Fähigkeiten, Kenntnissen und Leistungen halte ich Drach, der viel Bitteres durchgemacht hat und als Spätheimkehrer gilt, für die baldige Einweisung in die Stelle eines Ersten Staatsanwalts ganz besonders geeignet.
Drach wurde 1957 dann auch Erster Staatsanwalt und drei Jahre später noch Oberstaatsanwalt.
Ende der 1950er Jahre begann die DDR ihre „Braunbuch- bzw. Blutrichterkampagne“. Dazu hatte man sämtliche auf DDR-Boden verfügbaren Justizakten auf Personenidentität mit westdeutschen Juristen durchforstet. Anschließend veröffentlichte die DDR mehrere Broschüren, in denen das aufgefundene Material medienwirksam aufgearbeitet wurde. Die Dokumentationen umfassten Listen mit über 1.000 Richtern und Staatsanwälten, die in der NS-Zeit in politischen Strafsachen tätig gewesen waren. Aufgeführt waren ihre Namen und ihre damaligen Tätigkeiten bei den ordentlichen Gerichten, Sondergerichten, Kriegsgerichten oder am Volksgerichtshof, erwähnt war auch ihre derzeitige Tätigkeit im Justizwesen der Bundesrepublik Deutschland.
Dort wurden auch zahlreiche rheinland-pfälzische Richter und Staatsanwälte als „furchtbare“ Juristen genannt. Das gab eine „Schockstarre“, natürlich bei den Genannten, aber auch bei den Justizverwaltungen, die diese ja eingestellt hatten. Schnell war man bemüht, dies als kommunistische Hetze abzutun und das mit dem Hinweis auf Namensverwechslungen und falschen Schreibweisen zu beweisen. Natürlich kamen diese vor, aber zum ganz überwiegenden Teil waren die Angaben in den sog. Braunbüchern zutreffend bzw. ließen sich als Tippfehler u.ä. erklären. Es half also nichts, man musste sich mit den Vorwürfen der Braunbücher auseinandersetzen.
Das war auch deshalb nötig, weil die Braunbuchkampagne hier im Westen Unterstützung fand. Das geschah vor allem durch die von einem Berliner Studenten namens Reinhard Strecker initiierte und mit Unterstützung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) erarbeitete Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz – Dokumente zur NS-Justiz“. Sie wurde stark angefeindet und konnte nur mit ganz einfachen Mitteln realisiert werden. Der Ausstellungskatalog „Ungesühnte Nazijustiz. Hundert Urteile klagen ihre Richter an“ eines weiteren Studenten namens Wolfgang Koppel erschien 1960 nur in hektographierter Form. Aber es gab diese Ausstellung und sie machte eine gewisse Furore.
Unter diesen Umständen kam das rheinland-pfälzische Justizministerium nicht umhin, sich wegen der Kampagne wenigstens um fünf „furchtbare“ Juristen zu kümmern. Eine Notiz des Justizministeriums hielt folgendes fest:
In Rheinland-Pfalz liefen bis Anfang Februar 1960 nur gegen zwei Richter Ermittlungen (gegen den Oberlandesgerichtsrat Dr. Gerd Lenhardt, Neustadt und den Amtsgerichtsrat Gustav Kohlstadt, Koblenz). Nach Angaben des Justizministers waren es im März 1960 fünf. Bis Mai 1960 erhöhte sich die Zahl der Ermittlungsverfahren durch neue von den Ostblockländern erhobene Anschuldigungen auf acht; die Justizbehörden forderten bei der Generalstaatsanwaltschaft in Ostberlin die notwendigen Urteilskopien an und erhielten sie auch übersandt.
Der erwähnte Dr. Gert Lenhardt hatte seine Karriere beim Landgericht Koblenz begonnen, war dort in der Großen Strafkammer stellvertretender Vorsitzender und bei allen wichtigen Prozessen dabei. Vor Kriegsbeginn wurde er Vorsitzender Richter in Trier und übernahm die dortige Große Strafkammer. 1942 wechselte er an den Volksgerichtshof nach Berlin und war zunächst Hilfsrichter. Bei einer stichprobenartigen Recherche im Bundesarchiv habe ich festgestellt, dass er an mindestens 13 Todesurteilen beteiligt war. Später war Lenhardt Hilfsarbeiter beim Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof. In dieser Funktion hatte er Anklagen vorzubereiten und sie in der Hauptverhandlung zu vertreten. Nach meinen Recherchen hat er wiederholt auf Todesstrafe plädiert, die auch vom Volksgerichtshof verhängt wurde. Als Hilfsarbeiter beim Oberreichsanwalt nahm Lenhardt an Hinrichtungen teil. Seinerzeit soll er Kollegen in Trier kaltblütig erzählt haben, als Vertreter des Oberreichsanwalts habe er in einer Nacht 186 Personen, je 8 auf einmal, hängen lassen.
Nach dem Krieg war Lenhardt zunächst interniert und hatte mit seiner Wiedereinstellung Probleme. 1952 wurde er aber Hilfsstaatsanwalt in der Pfalz und 1956 Oberlandesgerichtsrat. Lenhardt war von Beginn der Braunbuchkampagne im Visier der DDR-Rechercheure. Als die beiden Macher der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ Strecker und Koppel den Fall Lenhardt aufgriffen und gegen ihn u.a. bei der Staatsanwaltschaft Frankenthal Strafanzeige wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag erstatteten, zog es Lenhardt vor, in den Ruhestand zu gehen und sich als Rechtsanwalt in Neuwied niederzulassen.
Der andere vom Justizministerium erwähnte Fall war der des Amtsgerichtsrats Gustav Kohlstadt. Er war ein mittelmäßig qualifizierter Jurist und versuchte, Karriere in der vom Hitler-Deutschland zerschlagenen und besetzten Tschechoslowakei zu machen. Er ließ sich nach dem böhmischen Budweis abordnen und war dort in allerlei Funktionen für die NSDAP und auch für die Gestapo tätig. Zu einer Beförderung reichte es nicht, aber Kohlstadt wurde immerhin Beisitzer am Sondergericht Prag.
Nach dem Krieg kehrte er in den Westen zurück, ließ sich aus familiären Gründen in Koblenz nieder und wurde Amtsrichter. Im Rahmen der Braunbuchkampagne kam nach und nach heraus, dass er mindestens an 10 Todesurteilen des Sondergerichts Prag mitgewirkt hatte. Der Staatsanwaltschaft Koblenz blieb nichts anderes übrig, als ein Ermittlungsverfahren gegen ihn einzuleiten. Andererseits drängte man Kohlstadt in den Ruhestand. Im Herbst 1962 ließ er sich in den Ruhestand versetzen; er erhielt schon im Ruhestand die Verfügung über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn.
Genau in dieser Zeit – Anfang der 1960er Jahre – kam noch eine andere Personalie ans Licht, allerdings nicht durch die Braunbuchkampagne. Durch irgendeinen Umstand wurde man auf den Oberverwaltungsgerichtsrat Walter Grabendorff und seine Vita aufmerksam. Grabendorff war der ausgewiesene Beamtenrechtler des Gerichts. Anfang der 1960er Jahre kam nun heraus, dass Grabendorff eigentlich Grabinski hieß, aus Radom im deutsch-tschechischen Grenzgebiet stammte und ein SS-Obersturmführer gewesen war. Das gab allerhand Aufregung beim Oberverwaltungsgericht, gerade auch bei dem inzwischen zum Präsidenten ernannten Dr. Meyer-Hentschel. Da starb „plötzlich und unerwartet“ Grabendorff/Grabinski und Meyer-Hentschel konnte mit einer Traueranzeige und einer Grabrede den gerade entstehenden Fall dieses SS-Obersturmführers erledigen.
Überhaupt hatte das Oberverwaltungsgericht allerhand Glück. Bis 1956 war bei ihm der Mainzer Universitätsprofessor Friedrich August Freiherr von der Heydte Richter im Nebenamt. Vor 1945 war der Freiherr Stabsoffizier in der Fallschirmjägertruppe und Ritterkreuzträger gewesen und nach 1945 außerdem erster Brigadegeneral der Reserve der neu aufgestellten Bundeswehr.
Um ihn gab es Anfang der 1960er Jahre wegen einer Berufung an die Universität Wien und um 1968 wegen seiner Tätigkeit an der Universität Würzburg sehr heftigen politischen Streit. Zu der Zeit hatte er aber schon Mainz und auch das Oberverwaltungsgericht in Koblenz verlassen. Bei Gericht erinnerte man sich an ihn noch mit folgender Anekdote: In einem Prozess eines Soldaten zog sich die mündliche Verhandlung vor dem Senat in die Länge, von der Heydte stand kurz vor dem Einnicken. Da kam der Kläger auf Kampfhandlungen auf Kreta zu sprechen. Ein Ruck ging durch den Freiherrn. Der sprang auf und rief: „Jawoll, Kamerad, Du warst auf Kreta!“ Von der Heydte war nämlich Bataillonskommandeur in der Luftlandeschlacht um Kreta und hatte wegen der Einnahme des Hafens von Chania das Ritterkreuz erhalten. Seine Autobiografie hat den bezeichnenden Titel: „Muss ich sterben, will ich fallen.“
1964 kam noch einmal der Fall Drach hoch und schaffte es bis in den „Spiegel“ hinein. Der war auch zu kurios. Auslöser war der frühere rheinland-pfälzische Finanzminister Nowack. Er war vor einigen Jahren bei Aktiengeschäften aufgefallen und vom Landgericht Frankenthal wegen Untreue zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Ankläger war Leo Drach. Nowack kannte Drach von früher nicht, wohl aber kannte ihn Nowacks Verteidiger, der Koblenzer Rechtsanwalt Dr. Edmund Dondelinger. Beide, Dondelinger und Drach, waren Zellennachbarn im Gefängnis in Luxemburg. Nowack hielt sich zunächst zurück und wartete ab. Als der Bundesgerichtshof aber das Frankenthaler Urteil gegen ihn bestätigte, er sich mit seinem Rechtsanwalt überwarf und dann Drach gegen ihn auch mit einer neuen Anklage wegen Verleitung zum Meineid überzog, machte Nowack den Fall Drach öffentlich. Er klagte die "Justiz von Rheinland -Pfalz" in einem "Offenen Brief" an, sie habe "wissend um die Verbrechen des Drach ... eine bestürzende Kameraderie betrieben, die diese Verbrechen zum mindesten verschleiert, sie entschuldigt oder gar als solche leugnet". Sie habe "diesen Leon Drach ... wieder in den Kreis ihrer Richter und Staatsanwälte eingereiht, so als ob nichts oder schlimmstenfalls ein pensionsfähiges 'Kavaliervergehen' vorläge". Nowack: "Ich lehne es ab, mich von einem Kriegsverbrecher anklagen zu lassen."
Da wurde es wieder hektisch. Es ging aber nur noch um Drach und Wienecke – das war der mit dem Ehrenwort. Raderschall war inzwischen mit Dank und Anerkennung für die in langjähriger treuer Pflichterfüllung geleisteten Dienste in den Ruhestand getreten und an Bauknecht, den Präsidenten des Landesprüfungsamtes, dachte man nicht. Staatsanwalt Wienecke wurde wegen der Luxemburger Geschichte entlassen. Seine Klage dagegen hatte Erfolg. Das Verwaltungsgericht Koblenz hob die Verfügung mit dem Argument auf, dem Land seien bei Wieneckes Einstellung in den Justizdienst die gesamten Umständen bekannt gewesen. Es könne daher im Nachhinein diese nicht für seine Entlassung aus dem Dienst heranziehen.
So blieb nur Drach. Justizminister Schneider stellte sich vor ihn mit dem Argument, Drach habe nur die geltenden Gesetze vollzogen, aber keine Exzesshandlungen begangen. Diese Begründung nimmt die spätere Argumentation Filbingers vorweg: „Was damals Recht war…“ Der Druck wurde aber stärker, und den gab das Ministerium an Drach weiter. Schließlich einigte man sich darauf, dass Drach mit 63 Jahren in den Ruhestand ging – und mit Dank für die geleisteten Dienste für das Land Rheinland-Pfalz. Die NS-Zeit konnte man beim Dank wenigstens ausklammern. Es gab dann noch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der brachte aber nichts Neues.
Damit erreichen wir so die Zeit, in der der Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main und die 1968er Jahre stattfanden. Auswirkungen hatten diese Ereignisse auf unser Thema „Bestrafung der NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik“ so gut wie gar nicht. Meine eigene Studentenzeit in Mainz, die ein Dreivierteljahr währte bis ich dann genug hatte von den vielen Burschenschaftlern dort, war 1968/69 sehr ruhig. Ich erinnere mich gerade noch an den Fall Bartholomeyczik. Unter den Studenten munkelte man, dass er eine „braune Vergangenheit“ habe. Das war es dann auch. Im „Braunbuch“ der DDR war Horst Bartholomeyczik für die Zeit vor 1945 als Richter am Sondergericht in Breslau und SS-Obersturmbannführer genannt und für die Zeit nach 1945 als Oberlandesgerichtsrat in Koblenz und Professor für Wirtschafts- und Zivilprozessrecht an der Universität Mainz.
Heute wissen wir, dass Bartholomeyczik seit 1939 SS-Obersturmbannführer und Mitarbeiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS (RuSHA) war. Er arbeitete mit an Teilprojekten des Generalplans Ost und schrieb die Arbeit: „Erforschung der rechtlichen Voraussetzungen und der Rechtsform der Ostsiedlung“. Das klingt harmlos und juristisch, letzteres stimmt. Dabei muss man sehen, dass der „Generalplan Ost“ die entscheidende Grundlage für die Neuordnung Osteuropas (und darüber hinaus) nach der NS-Rassendoktrin war. Nach dem Sieg über die Sowjetunion im „Vernichtungskrieg“ und der Durchführung des „Hungerplans“, nach dem bis zu 30 Millionen Sowjetbürger verhungern sollten, sollte der „Lebensraum im Osten“ kolonisiert und „germanisiert“ werden. Für die Besiedlung durch „Volksdeutsche“ und Nordeuropäer war geplant, nach und nach die einheimischen slawischen Völker, die ja nur zu einem kleinen Teil „germanisiert“ werden konnten, zu vertreiben oder zu töten. – Die Informationen aus dem „Braunbuch“ hatten offenbar keine Folgen für Prof. Bartholomeyczik. Er wurde 1971 unbehelligt emeritiert. Auf der Internet-Seite von „Gutenberg Biographics“ findet sich Akademisches und Biografisches zu Prof. Bartholomeyczik, u.a. die weitere Information: „Aufgrund seiner Rolle im Nationalsozialismus wurde Bartholomeyczik nicht direkt nach dem Krieg wieder an eine deutsche Hochschule berufen.“
Zu dieser Zeit gingen die letzten „furchtbaren Juristen“ in den Ruhestand. Aktiv war etwa noch Erster Staatsanwalt Josef Abbott – der kleine Freisler von Danzig, Sie erinnern sich. Eine ältere Kollegin vom Oberlandesgericht Koblenz erzählte mir später, in der Kantine des Landgerichts im 8. Stock habe immer eine Gruppe von Juristen, auch Rechtsanwälten, gesessen, Abbott habe vielfach da herumschwadroniert und seine Kommentare mit der Bemerkung abgeschlossen: „Bei Adolf wäre das nicht passiert!“ Abbott wurde dann noch zum Oberstaatsanwalt befördert.
Ein anderer war ein gewisser Wolfgang Reinholz. In der NS-Zeit war Reinholz beim Reichssicherheitshauptamt beschäftigt, später als SS-Sturmbannführer und als stellvertretender Leiter eines Einsatzkommandos für Massenmorde verantwortlich. Nach dem Krieg trat er 1956 in den Justizdienst ein, war Richter an der Trierer Kammer des Verwaltungsgerichts Koblenz und wurde noch zum Vorsitzenden Richter befördert. Reinholz verabschiedete sich 1976 sang- und klanglos in den Ruhestand, ohne dass er als „furchtbarer Jurist“ aufgefallen war.
Im selben Jahr, 1976, ging auch der Präsident des Oberverwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, Prof. Dr. Gerhard Meyer-Hentschel, in den Ruhestand, nachdem er 25 Jahre lang die Geschicke dieser beiden Gerichte und deren Personenpolitik entscheidend gesteuert hatte. Seine Personalpolitik wird deutlich an einer kleinen Geschichte, die sich abspielte, als sich ein junger Assessor bei ihm zur „Durchleuchtung“ vorstellte. Meyer-Hentschel zeigte er sich erfreut über dessen parteipolitisches Engagement und meinte dazu: „Das ist ja schön, dass Sie sich parteipolitisch betätigen. Aber muss es denn unbedingt die SPD sein?!“
Mitte bis Ende der 1970er waren dann diese und andere NS-Juristen in Rheinland-Pfalz in den Ruhestand getreten. Soweit sie Personalpolitik hatten betreiben können, bestimmte diese noch viele Jahre die Justiz. Aber mit ihnen ging in Person eine Ära zu Ende. Es ist kein Zufall, dass erst dann die systematische und von einer aufmerksamen Öffentlichkeit getragene Aufarbeitung der NS-Justiz und ihres Personals begann. Erinnert sei an Rolf Hochhuth und den „Fall Kiesinger“ im Jahr 1978. Aber auch an das eingangs erwähnte, 1981 erschienene Bändchen: „Hitlers Blutjustiz – ein noch zu bewältigendes Kapitel deutscher Vergangenheit“.
Einer der beiden Autoren war Alphonse Kahn. Mit ihm möchte ich diesen Vortrag schließen. Alfons Kahn, später nannte er sich Alphonse, war Jude, Kommunist und Jurist – eine ungewöhnliche Konstellation – vergleichbar mit Fritz Bauer. 1933 musste Kahn aus Deutschland fliehen. Er ging nach Frankreich, arbeitete illegal für die Résistance und unter falschem Namen gegen die deutschen Besatzer. Als ihm die Enttarnung drohte, floh er nach Deutschland und war weiter illegal aktiv. Nach der Befreiung wurde er Leiter des Landesamtes für Wiedergutmachung - und blieb Kommunist. So geriet er Anfang der 1950er Jahre in die ersten westdeutschen Berufsverbote für Kommunisten im öffentlichen Dienst. Diese wurden zunächst von Ministerpräsident Peter Altmeier für Rheinland-Pfalz und dann als sog. Adenauer-Erlass für die ganze Bundesrepublik verfügt. Daraufhin wurde u.a. Alphose Kahn als Oberregierungsrat des Landes entlassen. Seine Klage dagegen wies das Oberverwaltungsgericht Koblenz ab.
Vorsitzender des Senats war der Ihnen bekannte Dr. Gerhard Meyer-Hentschel, Kriegsgerichtsrat Hitlers in der zur Festung erklärten Stadt St. Nazaire. Er hatte Glück gehabt, Alphonse Kahn nicht. Nach seiner Entlassung verdiente Kahn seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie als Rechtsvertreter mehrerer Firmen, war Präsidiumsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und der Vereinigung demokratischer Juristen. Er erfuhr mehrere Ehrungen, u.a. auch aus Frankreich. Alphonse Kahn starb 1985.
Das, meine Damen und Herren, waren einige Schlaglichter aus der rheinland-pfälzischen Nachkriegsjustiz. Ich bin der Landeszentrale für politische Bildung dankbar, dass ich hier einmal diese Geschichte ansprechen konnte. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für die Geduld mit mir und dem Thema, auch wenn Sie von Anfang an wussten, dass die Aufarbeitung der NS-Justiz ein Misserfolg und mehr oder minder ein Freispruch für die Nazi-Justiz war. Ich hoffe aber, dass ich Ihnen ein differenziertes Bild vermitteln konnte. Wenn ich an diese Geschichte denke, staune ich immer, dass aus diesen Anfängen heute eine Justiz geworden ist, mit der man im Großen und Ganzen sehr zufrieden sein kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Vor 75 Jahren: Die Deportation von 149 Sinti aus Koblenz und Umgebung nach Auschwitz-Birkenau.
In diesen Tagen jährt sich zum 75. Mal die Deportation rheinischer Sinti in das "Zigeunerlager" von Auschwitz-Birkenau. Nachdem am Tag zuvor die Koblenzer Sinti in der Hilda-Schule in der südlichen Vorstadt gesammelt worden waren, wurden sie am 10. März 1943 zum Hauptbahnhof in Koblenz geschafft und mit einigen wenigen Personen aus Trier in das Messelager von Köln-Deutz transportiert. Dort war der Sammelplatz für die westdeutschen Sinti. Entsprechend dem "Auschwitz-Erlass" des "Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei" Heinrich Himmler vom 16. Dezember 1942 verschleppte man sie in einen speziellen Bezirk des Konzentratiuons- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, in das sog. Zigeunerlager. Diese Deportation war der lokale Ausschnitt aus dem Völkermord an den Sinti und Roma.
An dieses Geschehen vor 75 Jahren und seine Vorgeschichte erinnert ein Zeitungsartikel, den unser stellvertetender Vorsitzender Joachim Hennig verfasst hat.
Lesen Sie HIER den Artikel im "Schängel" vom 7. März 2018
Update 18.03.2018