Erinnerung an Zwangssterilisations- und NS-"Euthanasie"-Opfer.
Im Juni wird die Veranstaltungsreihe "Menschen - Nachbarn - Schicksale. NS-Opfer im rechtsrheinischen Koblenz - verfemt, verfolgt, vergessen?" fortgesetzt mit einer Ausstellung über Zwangssterilisierte und NS-"Euthanasie"-Opfer aus den Koblenzer Stadtteilen Horchheim und Arenberg. Der Leiter der Einrichtung "Haus an der Christuskirche" der Stiftung Bethesda-St. Martin Ralf Schulze eröffnete die Ausstellung in der Lutherkapelle in Koblenz-Horchheim. Mit seinem Vortrag "'Nicht Strafe - sondern Befreiung' - Eugenik. Zwangssterilisation und NS-'Euthanasie'" führte Schulze in die Ausstellung ein. Dabei gab er einen interessanten Überblick über die Geschichte der Eugenik seit Mitte des 19. Jahrhunderts und deren praktische Umsetzung in der Gesetzgebung zahlreicher Staaten der USA und Nordeuropas. Der Referent ging auch auf die Vorgeschichte der NS-"Rassenhygiene" im damaligen Deutschland ein und gerade auch auf ihre Akzeptanz im Bereich der evangelischen Kirche (Innere Mission, heute: Diakonie).
Die Ausstellung ist noch bis zum 14. Juni 2019 in der Lutherkapelle in Koblenz-Horchheim zu sehen. Sie wird abgeschlossen mit dem Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig zum Thema "'Ballastexistenzen' und 'lebensunwertes Lebens'" am Donnertstag, dem 13. Juni 2019 um 19.30 Uhr in der Lutherkapelle in Koblenz-Horchheim. Darin stellt Hennig erstmals das Schicksal mehrerer Nachbarn aus den rechtsrheinischen Stadtteilen von Koblenz vor, die von den Nazis und ihren Helfern als psychisch Kranke und sozial Unangepasste aus der "Volksgemeinschaft" "ausgemerzt" wurden. Am selben Abend, um 18.00 Uhr, findet ein Ortstermin in Horchheim statt. In der Emser Straße 365 erinnert der Heimatfreund Peter Wings an die jüdische Metzgerfamilie Salomon-Fried und anschließend in der Emser Straße 269 an die Familie Helledag. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei.
Lesen Sie HIER den Artikel unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig im "Schängel" Nr. 22 vom 29. Mai 2019.
Sehen Sie nachfolgend einige Fotos von der Ausstellung in der Lutherkapelle und dem Vortrag von Ralf Schulze.
Lesen Sie hier noch den Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig, den er am 13. Juni 2019 in der Lutherkapelle zum Thema "Ballastexistenzen und lebensunwertes Leben" zum Schicksal Zwangssterilisierter und NS-"Euthanasie"-Opfer aus dem rechtsrheinischen Koblenz gehalten hat.
„Ballastexistenzen und lebensunwertes Leben“
Vortrag von Joachim Hennig am 13. Juni 2019 in der evangelischen Lutherkapelle
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie sehr herzlich zum letzten Vortrag in der Veranstaltungsreihe „Menschen – Nachbarn – Schicksale. NS-Opfer im rechtsrheinischen Koblenz – verfemt, verfolgt, vergessen?“ Diese Reihe präsentiert die evangelische Kirchengemeinde Koblenz-Pfaffendorf in Kooperation mit dem Förderverein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus beginnend am 11. März mit vier Ausstellungen an vier verschiedenen Orten und mit einem Begleitprogramm. Wir sind hier am Ende der Reihe.
Zu diesem Beiprogramm gehörte und gehört auch jeweils eine Station in dem betreffenden Stadtteil. Heute gab es den Ortstermin an zwei Stellen in Horchheim zur Erinnerung an zwei jüdische Familien. Der Termin begann an der Emser Straße 365 mit der Erinnerung an die dort bis zu ihrer Verfolgung lebende und arbeitende Metzgerfamilie Salomon und Fried. Es folgte dann die Station in der Emser Straße 269 zur Erinnerung an die Familien Hellendag. Beide Male hat der Heimatfreund Peter Wings über das Leben und Leiden dieser ehemaligen Bürger Horchheims berichtet. Lieber Herr Wings, haben Sie vielen Dank für Ihr Gedenken an diese Menschen. Seit Jahren arbeiten Sie an der Erinnerung an diese und andere Horchheimer. – Ich denke, auch mit Blick auf Ihre Aktivitäten, lieber Herr Wings, sagen zu können, dass die NS-Opfer im rechtsrheinischen Koblenz verfemt und verfolgt – aber nicht wie es in dem Titel der Reihe fragend heißt – auch (ganz) vergessen sind.
Dazu, dass diese Menschen nicht ganz vergessen sind, wollte und will auch diese Veranstaltungsreihe beitragen. Es wäre ein Erfolg für die Reihe, wenn das den Initiatoren ein Stück weit gelungen wäre. Mir geht in der Gedenkarbeit immer ein Wort durch den Kopf: „Ein Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“
So wollen wir heute mit dem letzten Vortrag in der Reihe einige Arenberger und Horchheimer Opfer des Nationalsozialismus in das kollektive Gedächtnis im rechtsrheinischen Koblenz zurückrufen. Es sind keine bekannten NS-Opfer oder Widerständler wie Pfarrer Paul Schneider, der „Prediger von Buchenwald“, oder der Widerständler Prof. Dr. Friedrich Erxleben oder der Sinti-Musiker Daweli Reinhardt, an die wir bei den ersten drei Veranstaltungen besonders erinnert haben. Die Menschen, die hier vorgestellt werden, waren Unbekannte, ganz und gar vergessene Menschen, Menschen, die unsere Nachbarn hätten sein können, und vielleicht Nachbarn unserer Eltern und Großeltern waren.
Den Hintergrund für diese Schicksale hat uns vor 10 Tagen an gleicher Stelle Herr Ralf Schulze dargestellt. Das war die verbrecherische Ideologie der Nationalsozialisten, die „Rassen-hygiene“. Die „Rassenhygiene“ war für die Nazis ein Teil ihres Rassismus.
Wir alle kennen ja den Rassismus nach außen – wie ich ihn bezeichnen möchte – den Antisemitismus. Er war von Anfang an Programm der NSDAP. In ihrem Parteiprogramm vom 24. Februar 1920 hieß es:
Ziffer 4:
Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.
Und Ziffer 5:
Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung gestellt werden.
Dieser Rassismus, der seinen gesetzlichen Niederschlag in den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 gefunden hatte, schloss also die Nichtarier, die Nicht-Deutschblütigen aus der Gesellschaft aus. Die Juden und auch die Zigeuner waren keine Bürger mehr, sondern nur noch Gäste, die als Fremde, unter Fremdengesetzgebung zu stellen waren. Das Ergebnis dieser Ausgrenzung, Diskriminierung war Verfolgung und Völkermord.
Das war der Antisemitismus, der Antiziganismus, der Rassismus nach außen, der Ausschluss von Anfang an der „anderen“. Nur der „Arier“, der Deutschblütige zählte, die anderen waren Fremde.
Bei der Rassenhygiene war die Zielrichtung der Ausgrenzung und Diskriminierung eine andere. Das war der Rassismus nach innen. Der richtete sich gegen die „Arier“, die Deutschblütigen selbst. Ausgegrenzt und diskriminiert wurden diejenigen, die nicht in das Bild des „Ariers“ passten. Das waren psychisch Kranke, Behinderte, Alkoholiker, Unangepasste, auch Kriminelle. Das war Rassismus nach innen, Rassenpflege, „Aufnordung“, „Ausjätung“ – wie die Nazis das gern umschrieben.
Für diese Ausstellung hier habe ich mich auf die Suche nach diesen Menschen gemacht, und zwar speziell nach denen, die in den rechtsrheinischen Stadtteilen von Koblenz geboren wurden und/ oder gelebt haben.
Wir wissen ja inzwischen, wie solche Menschen – von Sonderfällen abgesehen – Opfer der NS-„Rassenhygiene“ wurden. Das geschah zum einen durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-wuchses“ vom 14. Juli 1933. Zum anderen durch die Krankenmorde im Rahmen der T4-Aktion ab Oktober 1939 und dann in der 2. Phase der NS-„Euthanasie“, der sog. dezentralen Phase ab August 1942.
Für die Ausstellung galt es, an Namen und an Akten von solchen Personen zu kommen und sie dann auszuwerten. Inzwischen ist das in mancherlei Hinsicht gut möglich.
Das gilt vor allem für die Opfer der Zwangssterilisation. Über diese gibt es Akten der Erbgesundheitsgerichte. Diese Gerichte entschieden nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Über diese Verfahren wurden Gerichtsakten angelegt und diese Akten sind jedenfalls für das Erbgesundheitsgericht Koblenz weitgehend erhalten. Außerdem legten die inzwischen staatlichen Gesundheitsämter Akten an. In diesen sind Vorgänge vorhanden, die entstanden sind, wenn Menschen mit dem Gesundheitsamt in Kontakt kamen. Auch in diesen Akten gibt es Vorgänge zum Sterilisationsverfahren.
Alle diese Akten sind im Landeshauptarchiv Koblenz archiviert. Sie sind bei einem „berechtigten Interesse“, zu dem auch ein wissenschaftliches Forschungsinteresse gehört, zugänglich. Die Akten sind inzwischen so aufgearbeitet, dass man dort nach Namen suchen kann – wenn man denn die Namen kennt. Wenn man die Namen nicht kennt, dann kann man dort auch nach Geburts- und/oder Wohnort recherchieren (lassen).
Eine gewisse Beschränkung ergibt sich allerdings daraus, dass die betreffende Person vor mehr als 100 Jahren geboren worden bzw. mehr als 10 Jahre tot sein muss. Da man das Todesdatum im Allgemeinen nicht kennt, kommt es auf das Geburtsdatum an. Das ergibt sich in diesen Fällen aus den Akten selbst. Diese 100-jährige Sperrfrist ist aber heutzutage kein (größeres) Problem mehr. Wer ab 1934 sterilisiert wurde, war zum Zeitpunkt der Unfruchtbarmachung oft älter als 20 Jahre. Wenn das so war, dann war er vor 1918 geboren und damit vor mehr als 100 Jahren.
Auf diese Weise gelang es, Namen und Akten von sterilisierten Menschen aus dem rechtsrheinischen Koblenz zu erhalten. Das waren 9 Menschen aus Horchheim, 9 aus Pfaffendorf und 7 aus Arenberg. Die Biografie von sechs dieser Menschen habe ich für die Ausstellung aufgearbeitet.
Das war noch relativ einfach. Schwieriger war es mit den NS-Opfern der T4-Aktion. Zwar gab es über 70.000 dieser Opfer, auch solche aus Koblenz und auch aus dem rechtsrheinischen Koblenz. Aufgrund von Listen und Karteien, nach denen Patienten bestimmter Heil.- und Pflegeanstalten in die Tötungsanstalt Hadamar transportiert wurden, kennen wir zahlreiche Namen, das Geburtsdatum und das mutmaßliche Todesdatum in Hadamar. So habe ich mehrere rechtsrheinische Opfer der T4-Aktion gefunden: 3 aus Horchheim, 2 aus Pfaffendorf, je eines aus Arenberg, Arzheim, Immendorf und Niederberg. Das Problem hierbei ist aber, dass die Krankenakten dieser Patienten mit ihnen „mitgewandert“ waren. Sie kamen also auch in die Tötungsanstalt Hadamar. Dort blieben sie aber nicht. Vielmehr wurden sie von Hadamar abgegeben in die Zentrale dieser Tötungsaktion in die Tiergartenstraße 4 in Berlin.
Dort sind nach dem Krieg etwa 30.000 dieser Akten erhalten geblieben. Sie sind jetzt archiviert im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Da kommt man natürlich von Koblenz aus schlecht dran. Immerhin sind die Namen jetzt auf der Internetseite des Bundesarchivs einsehbar. Da habe ich auch nachgesehen – aber keinen von hier gefunden. Immerhin habe ich durch eine andere Recherche ein solches T4-Opfer aus Horchheim ermitteln und auch porträtieren können.
Schließlich habe ich auch noch nach Menschen recherchiert, die der 2. Phase der NS-„Euthanasie“, der sog. dezentralen Phase, zum Opfer fielen. Nach diesen zu forschen ist schwieriger, weil es keine derartigen Transportlisten gab bzw. nicht bekannt sind. Nach ihnen kann man aber bei der Gedenkstätte Hadamar nachfragen. Da das eine dezentrale Aktion war, wurden die Akten von der Tötungsanstalt Hadamar nicht nach Berlin weiter geschickt, vielmehr blieben sie in Hadamar und sind dort auch noch zum Teil vorhanden. Diese Akten sind auch aufgearbeitet, so dass man dort nach Namen und/oder Wohn- und Geburtsort recherchieren kann.
Andererseits ist die Feststellung, dass der betreffende Patient ermordet wurde und nicht eines natürlichen Todes gestorben ist, nicht so leicht zu treffen. Denn diese Phase war ja gerade dezentral, die Morde geschahen durch systematisches verhungern lassen, durch die Überdosis von Medikamenten usw. Das kann man anhand der Krankenakten schwer „nachweisen“. Ich habe für diese 2. Phase aber doch zwei NS-„Euthanasie“-Opfer gefunden, eins aus Horchheim und eins aus Pfaffendorf. Das Horchheimer Opfer zeige ich in der Ausstellung.
Ja, meine Damen und Herren. Das war jetzt recht viel und auch ein wenig kompliziert, was ich Ihnen hier zugemutet habe. Aber das gehört auch dazu, wenn man eine solche Ausstellung „verstehen“ will. Im Allgemeinen schaut man sich eine solche Ausstellung an und denkt: Ja, das ist ja ganz schön und auch eindrücklich, was da zu sehen ist. Aber so toll ist das nun auch nicht. Die Ausstellung zeigt ja nur, was damals war, na gut. Und vielleicht denkt man noch: Na, und dann gibt es nicht einmal Fotos von den porträtierten Menschen, die Ausstellung hätte man nun wirklich besser und interessanter machen können. - Wer denkt das schon daran, wie mühsam alles recherchiert wurde und dass es im Allgemeinen von den Menschen und ihren Familien keine Fotos gibt. Anders wäre es nur, wenn es von den Opfern noch Angehörige gäbe, die bereit und in der Lage sind, weitere Informationen, Dokumente und private Fotos zur Verfügung zu stellen. Das ist aber sehr selten und in den hier dargestellten Biografien nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, wenden wir uns nun den sieben Biografien von rechtsrheinischen NS-Opfern zu, die ich speziell für diese Ausstellung recherchiert und erarbeitet habe.
Das sind vor allem sechs Menschen, die zwangsweise sterilisiert wurden.
Rechtliche Grundlage für diese Sterilisationen war ja das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Danach wurde das Verfahren eingeleitet durch einen Antrag des Amtsarztes oder der Anstaltsleiter einer Heil- und Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt. Über den Antrag entschied ein Erbgesundheitsgericht. Davon gab es im Deutschen Reich 220. Ein solches Erbgesundheitsgericht gab es auch in Koblenz Die Erbgesundheitsgerichte waren besetzt mit einem Juristen, dem Amtsrichter als Vorsitzendem und 2 Ärzten, einer war ein beamteter Arzt, der andere ein frei praktizierender, der sich in der Materie gut auskannte. Gegen die Entscheidungen des Erbgesundheitsgerichts gab es noch die Beschwerdemöglichkeit zum Erbgesundheitsobergericht. Das war für Koblenz das Erbgesundheitsobergericht in Köln.
Die Gründe für die Sterilisation waren in § 1 des Gesetzes abschließend aufgeführt. Wir sind uns ja sicher einig, dass die Sterilisation eines Menschen gegen seinen freien Willen eine schwere Verfehlung ist. Der Eingriff ist eine gefährliche Körperverletzung, die generell zu schweren psychischen Störungen führt und auch totbringend sein kann. Das möchte ich hier nur vorab noch einmal deutlich herausstellen. Denn jetzt will ich ein wenig auf Details eingehen. Diese dürfen uns aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die zwangsweise Sterilisierung schon für sich ein „Verbrechen“ ist.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war zudem überhaupt nicht „logisch“. Das Gesetz ermächtigte zur Sterilisation desjenigen, der „erbkrank“ war. So hieß es in § 1 Abs. 1 des Gesetzes ausdrücklich. In § 1 Abs. 2 führte es dann 8 Krankheiten auf, die Erbkrankheiten im Sinne dieses Gesetzes waren. Von den 8 Krankheiten waren aber nur 5 als „erblich“ vom Gesetz bezeichnet, nämlich: erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere erbliche körperliche Missbildung.
Ob diese Krankheiten alle vererblich waren und dann auch bei allen nachkommen auftraten (Sie denken ja an die mendelschen Gesetze aus der Schulzeit) ist noch die Frage. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, ich bin ja kein Mediziner. In der Praxis kam es darauf auch nicht an. Wenn die Gerichte Fallsucht – Epilepsie – feststellten, dann ging man der Frage der Erblichkeit gar nicht mehr nach.
Außerdem: Bei 3 weiteren Krankheiten kam es auf die Erblichkeit gar nicht an. Das war der Fall bei angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie und zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein. Die mit Abstand meisten Zwangssterilisationen erfolgten wegen angeborenem Schwachsinn. Schon nach dem Gesetzestext musste der Schwachsinn nicht erblich sein – es reichte aus, wenn er angeboren war – wobei sich noch die Frage stellt, wann ist der Schwachsinn angeboren und wann nicht. Einen eindeutigen Fall einer Nicht-Erbkrankheit, war der in § 1 Abs. 3 des Gesetzes postulierte Fall der Sterilisation bei „schwerem Alkoholismus“.
Damit wollte ich Ihnen, meine Damen und Herren, nur zeigen, wie in sich unlogisch und haarsträubend das Gesetz auch in seinen Details war.
Kommen wir nun zum Lebensbild von Josef P. aus Horchheim. Daran will ich Ihnen auch das Verfahren im Allgemeinen aufzeigen.
Josef P. kam 1912 als sechstes und jüngstes Kind eines Landwirts hier in Horchheim zur Welt. Schon als Kleinkind hatte er eine schwere Mittelohrentzündung. In der Schule kam er nicht zurecht. Er leistete sehr wenig, konnte kaum lesen und kaum rechnen. Nach acht Jahren verließ er die Volksschule ohne Abschluss. Im Entlassungszeugnis waren in den einzelnen Fächern nicht einmal Noten ausgeworfen. Anschließend half er seinem Vater in der Landwirtschaft. Später sagte der Vater, Peter habe im Betrieb auch selbständig gearbeitet.
Im Februar 1934 verschlimmerte sich Peters chronische Mittelohrentzündung und führte zu Hirnkomplikationen (zu Krämpfen, Lähmungserscheinungen u.a.). Bei einer dringend nötigen Operation wurde das Ohr dann aufgemeißelt.
Der Zustand besserte sich. Das ging dann auch einige Jahre gut. – bis Josef P. im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht 1937 gemustert wurde. Dabei stellte der untersuchende Arzt einen angeborenen Schwachsinn fest. Damit geriet Josef P. in die Maschinerie der NS-Zwangssterilisation. Der Militärarzt informierte den Amtsarzt beim Gesundheitsamt Koblenz. Der ließ Josef P. einen standardisierten Intelligenzprüfungsbogen ausfüllen. Nach diesem Ergebnis stellte er beim Erbgesundheitsgericht Koblenz den Antrag auf Unfruchtbarmachung von Josef P.
Das Erbgesundheitsgericht sah sich Josef P. an und verfügte seine Sterilisation. Zur Begründung verwies es auf die schlechten schulischen Leistungen und auf das Ergebnis der Intelligenzprüfung.
Gegen diese Entscheidung legte Josef P.s Vater Beschwerde bei der nächsten Instanz, dem Erbgesundheitsobergericht in Köln, ein. Der Vater machte geltend, dass Josef seit frühester Kindheit das Ohrleiden gehabt habe, und dass das der Grund für seine schlechten schulischen Leistungen gewesen sei. In seinem landwirtschaftlichen Betrieb arbeite sein Sohn gut und selbständig.
Das Erbgesundheitsobergericht hörte Josef P. noch an. Dabei machte er einen „guten“ Eindruck. Das Gericht meinte auch, dass er eigentlich gar nicht schwachsinnig aussehe. Daraufhin holte das Gericht ein Sachverständigengutachten ein.
Der sachverständige meinte, Josef P. sei schwachsinnig, der Schwachsinn sei auch angeboren, das Ohrleiden sei für den Zustand nicht ursächlich. Daraufhin stellte auch das Erbgesundheitsobergericht fest, dass Josef P. an angeborenem Schwachsinn leide.
Josef P. wurde dann im Evangelischen Stift St. Martin in Koblenz sterilisiert.
Die Zwangssterilisation wegen angeborenen Schwachsinns war der häufigste Grund für diese Eingriffe, und zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Man geht davon aus, dass insgesamt in der Zeit von 1934 bis Kriegsende 350.000 bis 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert wurden. Zu Koblenz habe ich die konkreten Zahlen nicht parat. Ich kann Ihnen aber die Größenordnung sagen: Im 1. Jahr – 1934 – waren das so knapp 1.000 Sterilisationen, im 2. Jahr – 1935 – etwa 500, 3. Jahr – 1936 – auch so etwa 500. Und im 4. Jahr – 1937 – betraf die Statistik nur die ersten Monate. Statistiken für die späteren Jahre fehlen ganz. In der Zeit des zweiten Weltkrieges gab es ja ohnehin nicht mehr so viele Sterilisationen, die waren bis auf Ausnahmefälle eingestellt.
Nun zu einem anderen Fall, zu Josef G. Er wurde 1904 als Sohn eines Studienrats in Niederlahnstein geboren. Er machte Abitur und studierte – wohl auf Wunsch seines Vaters – Jura. Mit dem Studium kam er nicht zurecht und brach es ab. Er ging dann eine Beziehung zu einer Frau ein, daraus gingen zwei Kinder hervor. Sein Vater war strikt gegen die Beziehung, erst nach einigen Jahren erlaubte er die Heirat seines Sohnes Josef mit der Kindsmutter. Inzwischen wohnte die Familie in Horchheim. Hier war Josef G. ein sporadischer stiller Weintrinker.
Mitte der 1930er Jahre nahm sein Alkoholkonsum zu. Es kam zu einem Alkoholabusus mit Delirium und zur Einweisung in die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt in Bonn. Ehe er entlassen wurde, meldete der Anstaltsarzt Josef G. beim Kreisarzt als schweren Alkoholiker. Der Kreisarzt stellte daraufhin beim Erbgesundheitsgericht Bonn den Antrag auf Unfruchtbarmachung.
Das Erbgesundheitsgericht war sich unschlüssig und holte beim Gesundheitsamt Koblenz ein Gutachten ein. Auf der Grundlage einer persönlichen Untersuchung stellte das Gesundheitsamt fest, dass bei Josef G. „charakterologisch nichts nachweisbar (ist), was für den Trinker typisch ist“. Die Diagnose lautete: „Keine Anhaltspunkte für psychiatrisch-neurologische Erkrankung oder chronischen Alkoholismus“.
Dann erstattete die Heil- und Pflegeanstalt Bonn, die das ganze Verfahren ja ausgelöst hatte, auch ein Gutachten. Obwohl es selbst feststellte, dass die „Befunde leider keine absolut zwingenden Beweise (…) erbracht“ haben, bejahte es einen schweren angeborenen Alkoholismus als „sehr wahrscheinlich“.
Das reichte dann dem inzwischen zuständigen Erbgesundheitsgericht Koblenz und es beschloss Josef G.s Unfruchtbarmachung.
Dagegen legte Josef G. noch Beschwerde zum Erbgesundheitsobergericht ein.
Meine Damen und Herren, meinen Sie nicht, dass in vielen dieser Fälle das Obergericht angerufen wurde. Diese Fälle waren schon selten. Die Betroffenen lebten ja bisweilen in nicht unkomplizierten Verhältnissen. Oft war ein Familienangehöriger, der Vater, als Prozesspfleger bestellt. Der erklärte dann oft unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung den Rechtsmittelverzicht. Auch tat die Beschwerdemöglichkeit ein Übriges. Das Rechtsmittel musste innerhalb von zwei Wochen eingelegt werden. Das schreckte manche ab, andere versäumten die Frist.
Ich habe diesen und andere Fälle mit dem obergerichtlichen Verfahren hier herausgesucht, weil sie „interessanter“ sind als die ganz einfachen Fälle – und ich will Ihnen hier ja auch „interessante“ Schicksale bieten.
Also: Josef G. legte Beschwerde zum Erbgesundheitsobergericht ein. Während dieses Verfahren meldete sich seine Schwiegermutter gegenüber dem Gesundheitsamt mit der Schilderung, dass Josef G. nach Monaten der Abstinenz jetzt wieder trinke. Sie meinte dazu, eine Verhaltensänderung von Josef G. sei nötig und möglich. Voraussetzung dafür sei eine Entziehungskur und eine darauffolgende Arbeitsbeschaffung. – Sicherlich eine sehr vernünftige Überlegung. Wenn man dabei noch die Rolle des „Übervaters“ ein wenig aufarbeitete – so könnte man meinen -, dann könnte es auch gelingen.
Das wollte das Erbgesundheitsobergericht aber gar nicht hören. Von allem unbeeindruckt schloss sich das Gericht der Auffassung des Erbgesundheitsgerichts Koblenz an und wies die Beschwerde zurück.
Josef G. kämpfte noch gegen seine Zwangssterilisation, indem er der Aufforderung, sich zum Eingriff in ein Krankenhaus zu begeben, nicht Folge leistete. Schließlich wurde er von der Polizei aufgegriffen. Hier wird der Zwangscharakter dieses Verfahren ganz deutlich. Es war nicht nur so, dass das Verfahren vom Amtsarzt und vom Direktor einer Heil- und Pflegeanstalt eingeleitet werden konnte und der Betroffene Objekt dieses ganzen Verfahrens war. Vielmehr konnte er auch zum Eingriff gezwungen werden. In § 12 Abs. 1 des Gesetzes hieß es:
Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.
Diese Zwangssterilisationen fanden in Koblenz ganz überwiegend im Evangelischen Stift St. Martin statt. Operateur war der Chefarzt Dr. med. Dr, phil. h.c. Fritz Michel. Michel ist auch heute noch bestens bekannt. Aber nicht als Verstümmler hunderter Menschen, sondern als hochgeschätzter Bürger. Fritz Michel ist Ehrenbürger von Koblenz, auch von Ober- und Niederlahnstein, und Namensgeber für die Fritz-Michel-Straße in Neuendorf. Außerdem hat man ihm ein plastisches Denkmal gesetzt. Der Herr auf dem Stuhl am Eingang des Evangelischen Stift St. Martin ist Dr. med. Dr. phil. h.c. Fritz Michel. Dass er hunderte Menschen verstümmelt und die Gesundheit und die Lebensfreude geraubt hat, stört offensichtlich das offizielle Koblenz nicht.
An diesen beiden Fällen hier zunächst geschilderten Fällen soll deutlich werden, wie zweifelhaft auch die Rechtsfindung im Einzelfall, also die Anwendung dieser ohnehin höchst bedenklichen gesetzlichen Regelung war. Denn in beiden Fällen war es sehr fragwürdig – wenn man schon Schwachsinn und schweren Alkoholismus annahm –, dass beides auch angeboren war. Das haben die Gerichte angenommen, weil sie es annehmen wollten.
Wozu das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch noch benutzt und missbraucht(?) werden konnte, zeigt das nächste Schicksal, der Fall von Johann (Hans) Ch.
Der 1898 in Arenberg geborene Hans Ch. stammte aus einer alteingesessenen Handwerkerfamilie. Geisteskrankheiten waren in der Familie nicht aufgetreten. Die Volksschule besuchte er so schlecht und recht. Dann ging er in die Lehre, war Soldat im Ersten Weltkrieg und dann im Betrieb des Vaters tätig. Immer wieder kam er mit den Strafgesetzen in Konflikt, mit 23 Jahren fiel er zum ersten Mal auf. Das waren kleine Eigentumsdelikte, bis 1932 insgesamt 10 Straftaten.
Die Straftaten setzten sich fort. Schließlich kam Hans Ch. Mitte der 1930er Jahre ins Gefängnis nach Wittlich. Dort überprüfte man anhand des uns inzwischen bekannten Intelligenzprüfungsbogens seine Intelligenz. Das Ergebnis war durchaus ganz ordentlich. Der Arzt der Strafanstalt Wittlich kam daraufhin in seinem Gutachten zu folgendem Ergebnis:
Es handelt sich um einen Grenzfall. Intellektuell ist er wohl nur leicht schwachsinnig und kann auch diesen Defekt durch sein gewandtes Reden überdecken. Vom kriminellen Standpunkt aus ist er ein unverbesserlicher Rechtsbrecher, der durch Willensschwäche und hemmungslose Genusssucht eine schlechte Prognose bietet. (…) Wertvolles Erbgut würde (durch die Sterilisation) wohl nicht zugrunde gehen.“
Daraufhin stellte der Leiter der Strafanstalt Wittlich beim Erbgesundheitsgericht Trier den Antrag auf Unfruchtbarmachung wegen angeborenen Schwachsinns. Umgehend beschloss das Erbgesundheitsgericht Trier Hans Ch.s Sterilisation mit der bloßen und nach Aktenlage überhaupt nicht nachvollziehbaren Behauptung, er habe in der Intelligenzprüfung versagt. Deswegen leide er an Schwach-sinn, dieser sei auch – ohne dass auch das begründet wurde – angeboren.
Die von Hans Ch. dagegen eingelegte Beschwerde wies das Erbgesundheitsobergericht Köln zurück. Die Begründung ist sehr interessant. Nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass bei Ch. „freilich nur ein Schwachsinn leichteren Grades vor(liege)“, heißt es weiter: „Bei Ch. ist die Unfruchtbarmachung noch besonders wünschenswert, als er ein durchaus asozialer, haltloser Psychopath ist. Dass er dies ist, geht aus seinen Straftaten - er ist 15 Mal gerichtlich, und zwar meistens wegen Diebstahls und Betrugs bestraft und verbüßt zurzeit eine Gesamtstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten Zuchthaus - und aus seinen Erklärungen hervor.“. Da keine (äußere) Ursache erkennbar sei, müsse – so das Gericht – der Schwachsinn auch angeboren sein.
Diese Entscheidung ist ungeheuerlich und das aus mehreren Gründen: Erst war die Stelle, die den Antrag auf Unfruchtbarmachung stellte, selbst der Auffassung dass es ein Grenzfall ist, dass nur leichter Schwachsinn vorlag und dass der auch noch überdeckt wurde. Davon, dass er angeboren war, war ohnehin keine Rede. Dann begründete man die Unfruchtbarmachung mit seinen Straftaten. Diese waren aber nun gar kein Grund für die Sterilisation.
Das Erbgesundheitsgericht sprach dann die Sterilisation mit bloßen Behauptungen und ohne Begründung aus – offensichtlich fand es keine für das gewollte Ergebnis. Und das Erbgesundheitsober-gericht bemühte sich um eine Begründung, fand dann tatsächlich eine, die war aber abenteuerlich. Zum einen stellte es selbst fest, dass es wohl Schwachsinn leichteren Grades war – und begründete, dass es überhaupt Schwachsinn ist, schon gar nicht.
Dann kam das Gericht auf eine andere Begründung, nämlich die, dass Hans Ch. wegen seiner Straftaten asozial und haltlos sei. Das war ja nun auch kein Grund zur Sterilisation. Diese Argumentation ist ja sehr befremdlich. Das merkte das Gericht dann auch und meinte, eine Unfruchtbarmachung sei deswegen „wünschenswert“. Was ist das denn für eine Argumentation? Es ging ja hier nicht darum, ob ein bestimmtes Ergebnis wünschenswert war, sondern darum, ob Hans Ch. erbkrank war bzw. an schwerem Alkoholismus litt. Das merkte das Gericht zum Schluss auch selbst und verstieg sich schließlich zu der Behauptung, dass er schwachsinnig sei, weil er Straftaten begangen habe. Und dann setzte das Gericht noch einen drauf, und stellte fest, dass dieser angenommene Schwachsinn auch angeboren sein müsse, weil keine äußere Ursache dafür zu finden sei.
Das bedeutet also, dass Kleinkriminelle schwachsinnig seien und deshalb seien sie auch zwangsweise zu sterilisieren. Alles abenteuerlich. Jedenfalls diesen beiden Gerichten ging es nur um das Ergebnis, die Zwangssterilisation. Um das zu begründen, hatte man entweder gar keine Begründung gefunden oder man hatte schein-juristisch argumentiert und da herumfabuliert.
Diese Zwangssterilisationen wurden mit Beginn des Zweiten Weltkrieges im Großen und Ganzen beendet. Stattdessen begann die NS-„Euthanasie“. Sie hatte wie Zwangssterilisation dieselben Wurzeln - in der Eugenik und in der Rassenhygiene der Nazis. Wenig bekannt ist, dass von diesen Krankenmorden auch Menschen betroffen waren, die zuvor bereits zwangsweise sterilisiert worden waren. Denn man kann ja denken, dass mit der Unfruchtbar-machung das „Problem“ für die Nazis „erledigt“ war. So war es aber nicht, wie das Lebensschicksal des Horchheimers Jakob R. zeigt.
Jakob R. wurde 1899 in Horchheim geboren. Er ging zur Volksschule, sein Vater starb früh. Jakob lernte Autoschlosser und führte ein „normales“ leben. Mit 19 Jahren trat bei ihm zu ersten Mal die Krankheit Fallsucht (Epilepsie) auf. Später heiratete er dann, aus der Ehe ging eine Tochter hervor.
Ab 1934 trat die Krankheit massiv auf. Er kam in die Anstalt Andernach, der Anstaltsarzt erstattete daraufhin ein Gutachten und stellte auf dessen Grundlage den Antrag auf Unfruchtbarmachung. Dementsprechend beschloss das Erbgesundheitsgericht Koblenz seine Sterilisation. Dann wurde er von Dr. med. Dr. phil. h.c. Fritz Michel im Evangelischen Stift St. Martin im Februar 1935 sterilisiert. Die Operation verlief „regelrecht“ und nach einigen Tagen wurde er „als geheilt entlassen“. Es ging für Jakob R. aber nicht nach Hause nach Horchheim, sondern wieder in die Anstalt Andernach.
Mehr als 5 Jahre passierte nichts – was nach außen drang. Im Sommer 1940 wurden dann die Meldebögen auch in die Anstalt Andernach verschickt. Diese Meldebögen sollten für alle Patienten von heil- und Pflegeanstalten ausgefüllt werden, die 5 Jahre und länger in Anstaltsbehandlung waren und die keine „produktive“ Arbeit leisteten. Da geriet Jakob R. in die 1. Phase der NS-„Euthanasie“, die T4-Aktion. Die Anstalt Andernach füllte das Formular aus, dass Jakob R. an erblicher Fallsucht leide und demnächst nicht mit seiner Entlassung aus der Anstalt zu rechnen sei.
Am 7. Mai 1941 wurde Jakob R. dann mit zahlreichen anderen Patienten von Andernach mit den grauen Bussen der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (Gekrat) von Andernach abgeholt und in die Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg/Lahn gefahren. Dort fuhr der graue Bus in die Busgarage, die Patienten stiegen aus und gingen ins Haupthaus. Im Bettensaal mussten sie sich ausziehen und erhielten ausgediente Militärmäntel. Anschließend waren drei Stationen zu durchlaufen. Zuerst überprüfte ein Verwaltungsbeamter die Identität der Patienten. Dann legte der Tötungsarzt im Abgleich mit den Patientenakten jeweils eine willkürliche Todesursache fest. Ggf. markierte er die Patienten, die an einer interessanten Krankheit litten, diesen sollte später das Gehirn zu Forschungszwecken entnommen werden. Auch markierte er die Patienten, die Goldzähne hatten, die sollten später herausgebrochen, gesammelt und eingeschmolzen werden. Schließlich wurde von den Patienten noch ein Foto gemacht.
Danach wurden die Patienten gemeinsam in den Keller geführt – angeblich zum Duschen. Tatsächlich wurden sie mit Kohlen-monoxid ermordet. Nach einer halben Stunde waren sie tot. Die Leichen wurden aus der Gaskammer geholt und in zwei Krematoriumsöfen eingeäschert. Von außen sah man deutlich den Rauch aus dem Schornstein aufsteigen. Es roch süßlich nach verbranntem Menschenfleisch.
Für die in den Bussen ankommenden Patienten war in Hadamar gar kein Platz. Alles war so organisiert, dass sie noch am Ankunftstag mit Gas ermordet und eingeäschert wurden.
Anschließend verschickte die Anstalt standardisierte sog. Trostbriefe. Darin wurde den Angehörigen mitgeteilt, dass der Kranke nach Hadamar verlegt worden und plötzlich gestorben sei. Aus seuchenrechtlichen Gründen habe man den Leichnam sofort einäschern müssen. Den Angehörigen könnte aber die Urne mit der Asche per Post zugeschickt werden, wenn sie einen bestimmten Betrag bezahlten.
So geschah das auch mit Jakob R. Es gab allerdings noch ein kleines Nachspiel, weil die Tochter sich nach ihrem ermordeten Vater erkundigte. Am 7. Juli 1941 fragte die Tochter bei der Anstalt Andernach an, wie es ihrem Vater gehe weil sie schon lange keine Nachricht von ihm erhalten habe. Zu diesem Zeitpunkt war Jakob R. schon zwei Monate tot – in Hadamar ermordet. Eine Woche später teilte die Anstalt Andernach der Tochter mit, dass ihr Vater in eine andere Anstalt verlegt worden sei. Inzwischen war auch Jakob R.s Schwester alarmiert. Sie fragte am selben Tag bei der Anstalt Andernach nach ihrem Bruder an, weil sie seit Februar 1941 nichts mehr von ihm gehört habe. Zwei Tage später teilte die Anstalt Andernach der Schwester mit, dass sie bereits die Tochter über die Verlegung in eine andere Anstalt informiert und diese auch schon von der zuständigen Stelle Näheres erfahren habe. Wieder zwei Tage später schrieb die Tochter erneut an die Anstalt Andernach. Diese leitete das Schreiben – wie andere auch – an die GEKRAT nach Berlin weiter.
Damit endet die Akte des Horchheimers Jakob R.
Nach den Predigten des Münsteraner Bischofs Graf von Galen befahl Hitler unter dem 24. August 1941 die Einstellung dieser T4-Aktion.
Die Krankenmorde gingen aber weiter. Nicht in allen sechs Tötungsanstalten, wohl aber in Hadamar, wurden diese Morde ein Jahr später fortgesetzt. Inzwischen hatte man die beiden Krematoriumsöfen abgebaut, den Kamin zurückgebaut und die alten Bettensäle wiederhergestellt. Man verwandelte Hadamar scheinbar wieder in eine „normale“ Heil- und Pflegeanstalt. Aber ab August 1942 ging das Morden weiter. Das geschah nicht mit Giftgas, sondern vielmehr mit Medikamentengabe in Überdosis, mit Hungerkost und mit vorenthaltener medizinischer Hilfe.
Das Morden in dieser 2. Phase ist natürlich schwerer festzustellen als im Rahmen der T4-Aktion. Aber es gibt viele Indizien in tausenden Fällen, die auf solche Krankenmorde schließen lassen.
Ein solches Schicksal habe ich für die Ausstellung recherchieren können. Es ist die Lebensgeschichte von Sybilla Roos.
Die 1868 in Koblenz geborene Sybilla Roos lebte bis 1944 zusammen mit ihren Geschwistern ohne Probleme in Koblenz. Im letzten Kriegsjahr nahmen die Luftangriffe auf Koblenz stark zu. Anfang Oktober wurden die Geschwister in ihrer Wohnung ausgebombt. Daraufhin verließen sie wie viele andere Koblenzer auch die Stadt und ließen sich nach Thüringen „umquartieren“. Ihrer damals 76-jährigen Schwester Sybilla wollten sie diese Strapaze nicht zumuten. Sie brachten sie vor ihrer Abfahrt im Oktober 1944 ins Altenheim nach Horchheim.
Dort blieb sie nicht lange. Man verlegte sie in die Anstalt Herborn. Herborn war – wie Andernach und auch Scheuern (heute: Nassau-Scheuern an der Lahn) - eine Zwischenanstalt. Dorthin brachte man Menschen aus den „normalen“ Anstalten, um sie dann „geordnet“ in die Tötungsanstalt Hadamar bringen zu können. So geschah das auch mit Sybilla Roos. Am 6. Februar 1945 verlegte man sie nach Hadamar. In einem ärztlichen Zeugnis vom selben Tag hieß es dann formularmäßig, sie sei geisteskrank und fernerhin der Pflege in einer Irrenanstalt bedürftig. Die Diagnose lautete auf Verhärtung der Gehirnsubstanz.
Gerade in Hadamar angekommen, notierte Hadamar im Krankenblatt zwei Tage später: „Rapider Verfall. Herzschwäche“. Zwei Tage später lautete der Eintrag im Krankenblatt: „äußerst geringe Nahrungsaufnahme. Zunahme der Schwäche, moribunder Zustand“ (also: im Sterben liegend).
Wieder zwei Tage später, noch keine Woche in Hadamar starb Sybilla Roos. Der Eintrag im Krankenblatt lautet: „Tod durch körperlichen und geistigen Abbau im Alter“.
Am selben Tag machte die Anstalt einer in Westdeutschland verblieben Schwester von Sybilla Roos die „traurige Nachricht, dass diese heute in der hiesigen Anstalt verstorben ist. Die Beisetzung findet in aller Stille auf unserem Anstaltsfriedhof statt.“
Das waren vier Schicksale von Menschen aus dem rechtsrheinischen Koblenz. In der Ausstellung werden sieben Schicksale beschrieben. Bei meinen Recherchen für diese Ausstellung bin ich auf 36 Menschen aus dem rechtsrheinischen Koblenz gestoßen, die dieses oder ein ähnliches Schicksal erleiden mussten.
Und zum Schluss noch ein paar Zahlen:
Man geht davon aus, dass in der Zeit von 1934 bis 1945 350.000 bis 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert wurden – das war ungefähr jeder 100. Deutsche im fortpflanzungsfähigen Alter.
Der 1. Phase der NS-Euthanasie“-Morde, der T4-Aktion mit Giftgas von Herbst 1939 bis August 1941 fielen mindestens etwas mehr als 70.000 Menschen zum Opfer. Allein in Hadamar waren es von Mitte Januar bis Mitte August 1941 mehr als 10.000 Patienten.
In der 2. Phase der NS-Euthanasie, der dezentralen Phase mit verhungern lassen und Überdosen von Medikamenten, schätzt man die Zahl der Krankenmorde auf ca. 100.000. Allein in Hadamar waren es an August 1942 bis Kriegsende etwa 5.000 Tote. Das ergibt dann für die beiden Phasen der NS-„Euthanasie“ 170.000 – manche schätzen auch 200.000 – Ermordete.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das wollte ich Ihnen hier erzählen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld mit mir und mit dem Thema.
Sehen Sie hier noch Bilder von der Stolperstein-Begehung am 13. Juni 2019 mit "Heimatfreund" Peter Wings in der Emser Straße 365 (Familie Solomon-Fried) und in der Emser Straße 269 (Familie Hellendag).
Die Wanderausstellung "Luxemburg im Zweiten Weltkrieg. Zwangsrekrutierung - Streik - Umsiedlung - Gefängnis" in Koblenz.
In der Zeit vom 3. Juni bis zum 11. August 2019 wird die Ausstellimng "Luxemburg im Zweiten Weltkrieg" an drei Orten in Rheinland-Pfalz präsentiert - am 3. und 4. Juni 2019 auf der Burg Stahleck oberhalb von Bacharach, vom 6. Juni bis zum 7. Juli 2019 in Koblenz in der Florinskirche, vom 9. Juli bis 11. August in der Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert. Alle drei Orte haben eine besondere Beziehung zur Besetzung Luxemburgs durch Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Auf die Burg Stahleck wurden nach dem Generalstreik/Schülerstreik Ende August/Anfang September 1942 183 luxemburgische Schüler zur "Umerziehung" verschleppt, Koblenz war die Gauhauptstadt des Gaus Moselland, von wo aus der Gauleiter Gustav Simon seine "Germanisierungs"- und "Entwelschungs"- sowie Nazifizerungspolitik in Luxemburg betrieb. Im KZ Hinzert wurden Anfang September 1942 im Zuge des Generalstreiks 20 luxemburgische Widerständler hingerichtet und am 25. Februar 1944 weitere 23 Widerstandskämpfer erschossen.
Die Ausstellung wurde von der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz an den drei Orten präsentiert, in Koblenz auch in Kooperation mit unserem Förderverein Mahnmal Koblenz.
Für die Eröffnung der Ausstellung am 6. Juni 2019 in der Koblenzer Florinskirche, erschien von unserem stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig in seiner Reihe "Erinnerung an NS-Opfer" ein Vorbericht zur Ausstellung.
Lesen Sie HIER den Artikel im "Schängel" Nr. 23 vom 5. Juni 2019.
In einem weiteren Artikel berichtete unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig in der Reihe "Erinnerung an NS-Opfer" über die Eröffnungsveranstaltung.
Lesen Sie HIER den Artikel im "Schängel" Nr. 24 vom 12. Juni 2019.
Zur Eröffnung der Ausstellung hielt unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig ein Grußwort.
Grußwort zur Ausstellungseröffnung „Luxemburg im Zweiten Weltkrieg“ am 6. Juni 2019 in Koblenz
von Joachim Hennig
Sehr geehrte Frau Becker,
sehr geehrter Herr Kukatzki,
sehr geehrter Herr Lorent,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich, hier für den Förderverein Mahnmal Koblenz ein Grußwort zu sprechen. Der Vorsitzende des Fördervereins, Herr Dr. Schumacher, der heute auch hier ist und den ich deshalb namentlich auch begrüßen möchte, hat auf die Anfrage hin sofort und gern der Kooperation für diese Ausstellung zugestimmt. Unser Förderverein freut sich, hier mit dabei zu sein.
Die Ausstellung kommt ja gerade von der Burg Stahleck und geht nach der Präsentation hier in die Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert bei Hermeskeil im Hochwald. Zwischen diesen beiden Stationen ist sie in der Florinskirche einen ganzen Monat zu sehen. Es ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer guten Regie – der Landeszentrale für politische Bildung und der luxemburgischen Träger der Ausstellung. Alle drei Ausstellungsorte sind authentische Stätten luxemburgischer Geschichte in der NS-Zeit bzw. haben viel damit zu tun. Bei der Burg Stahleck und bei dem SS-Sonderlager/KZ Hinzert ist das gut nachvollziehbar. Denn die Burg Stahleck war wiederholt - erst für luxemburgische Studenten und dann für luxemburgische Schüler im Zusammenhang mit dem Generalstreik - ein Ort der Indoktrination, Schikanierung und versuchten Umerziehung. Und das SS-Sonderlager/KZ Hinzert war nicht nur Durchgangslager für luxemburgische Häftlinge, sondern auch Hinrichtungsstätte für 20 Streikende Anfang September 1942 und für 23 luxemburgische Widerständler im Februar 1944.
Und Koblenz? Koblenz war Gauhauptstadt. Gau bedeutete damals Bezirk der NSDAP. 1931 hatte sich aus dem Gau Rheinland der Gau Koblenz-Trier-Birkenfeld herausgelöst. Leiter des Parteibezirks war seitdem und bis zuletzt der Gauleiter Gustav Simon. Und Koblenz war die Gauhauptstadt, sie blieb es auch bis zum Kriegsende.
Mit dem Überfall auf Luxemburg, Belgien, die Niederlande und auch auf Frankreich ab dem 10. Mai 1940, dem sog. Westfeldzug, ergab sich eine neue Situation. Das neutrale Großherzogtum Luxemburg erhielt zunächst eine Militärverwaltung – aber schon sehr bald eine Zivilverwaltung. Chef dieser Zivilverwaltung wurde – der Gauleiter Gustav Simon. Luxemburg wurde dem Deutschen Reich nicht formell eingegliedert. Es blieb selbständig. Simon, der Chef der Zivilverwaltung, regierte aber nach Gutdünken in und über Luxemburg.
Im Januar 1941 gab man dem Konstrukt einen Namen: Gau Moselland. Der NS-Gau Koblenz-Trier wurde um das besetzte Großherzogtum Luxemburg erweitert. Simon war jetzt Gauleiter dieses Gaus Moselland. Außerdem war er Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg.
Dieser Konstrukt „Gau Moselland – und Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg“ war mit Blick auf die vielen von Hitler-Deutschland besetzten Länder und Gebiete ungewöhnlich - aber nicht einmalig. Ähnlich war es auch anderswo im Südwesten Deutschlands.
Der NS-Gau Saarpfalz, der nach der Rückgliederung des Saargebiets in das Deutsche Reich aus dem Gau Pfalz und dem Saargebiet entstanden war, dieser Gau Saarpfalz wurde auf das besetzte Lothringen erstreckt und dann der Gau Westmark gebildet. Zuvor war der Gauleiter Josef Bürckel zum Chef der Zivilverwaltung in Lothringen ernannt worden. Und ebenso war es im Gau Baden. Auch der wurde auf das besetzte Elsaß erstreckt. Es entstand der Gau Baden-Elsaß. Der Gauleiter Robert Wagner wurde zugleich Chef der Zivilverwaltung von Elsaß.
So gab es im Südwesten drei Reichsgaue, die jeweils um die besetzten Gebiete Luxemburg, Lothringen und Elsaß erweitert waren. Diese Erweiterung galt jeweils „nur“ für das Parteigebiet. Damit war keine völkerrechtliche Annexion verbunden. Die Gebiete blieben formell selbständig und wurden von dem jeweiligen Gauleiter als „Chef der Zivilverwaltung“ verwaltet.
Als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg betrieb Simon von Anfang an auf kulturellem Gebiet eine harte „Germanisierungs- und Entwelschungspolitik“ wie auch eine Nazifizierungspolitik. Als Amtssprache befahl er Deutsch, Französisch wurde in der Öffentlichkeit verboten. Französische Vor- und Familiennamen wurden eingedeutscht. Die gesamte Geschichte des Großherzogtums Luxemburg wurde „auf Deutsch getrimmt“.
Simon hatte die Hoheitsbefugnisse über die gesamte Verwaltung in Luxemburg. Im Schnellverfahren wurden deutsche Gesetze und Verordnungen dort eingeführt. Hunderte deutscher Polizisten kamen nach Luxemburg. Der Chef der Trierer Gestapo war in Personalunion auch Chef der Luxemburger Gestapo. Die deutsche Justiz in Luxemburg von hier aus aufgebaut – vom Oberlandesgericht Köln aus, damals gab es noch kein Oberlandesgericht Koblenz. Sehr bald setzte man dort ein deutsches Sondergericht ein, das auch für Staatsschutzsachen zuständig war, das war ein „kleiner Volksgerichtshof“ in Luxemburg. Zahlreiche Beamte, Richter und Staatsanwälte, die zuvor in Koblenz und auch in Trier tätig gewesen waren, wurden dann nach Luxemburg beordert.
Ein Markstein in Simons „Germanisierungspolitik“ in Luxemburg – und bis heute eine schmerzliche Wunde für die Luxemburger – war die Zwangsrekrutierung von jungen Luxemburgern in die deutsche Wehrmacht. Als der Krieg im Osten nicht zu den schnellen Erfolgen führte, ging Hitler-Deutschland dazu über, im besetzten Luxemburg (und auch in Elsaß und Lothringen) junge Männer zur Deutschen Wehrmacht zwangsweise einzuziehen. Mit dem Eintritt in die Wehrmacht verloren sie ihre luxemburgische Staatsangehörigkeit und wurden automatisch Deutsche. Dieser klare Verstoß gegen das Völkerrecht löste in Luxemburg einen energischen Generalstreik aus. Obwohl dieser für Deutschland nicht bedrohlich war, reagierte Hitler-Deutschland mit großer Härte und Brutalität.
Die Geschichte des Generalstreiks und seiner Folgen, die bis zur Burg Stahleck und in das SS-Sonderlager/KZ Hinzert reichten, bildet den Kern der hier gezeigten Ausstellung. In diese wird – nach einem weiteren musikalischen Beitrag - Herr Lorent einführen. Ihnen, sehr geehrter Herr Lorant, möchte ich nichts vorwegnehmen und mache hier mit meinem Grußwort jetzt Schluss.
Ich danke Ihnen.
Im Beiprogramm zur Ausstellung hielt unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig einen Vortrag zum Thema "Koblenz und Luxemburg - Der Gau Moselland (1941-1945)".
Koblenz und Luxemburg – Der Gau Moselland (1941 – 1945)
Vortrag gehalten am 25. Juni 2019 in der Florinskirche in Koblenz, von Joachim Hennig
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich, Ihnen im Rahmen der Ausstellung „Luxemburg im Zweiten Weltkrieg: Zwangsrekrutierung – Streik – Umsiedlung – Gefängnis“ etwas über Koblenz und Luxem-burg und den Gau Moselland erzählen zu können.
Auf den ersten Blick klingen der Titel und das Thema etwas unübersichtlich. Durch die Ausstellung und durch ihre Präsentation zunächst auf der Burg Stahleck und durch die Veranstaltung am 13. Juni zu Hinzert und Flußbach wissen wir ja immerhin um die Bezüge der luxemburgischen Geschichte in der NS-Zeit zu unserer Region hier. Wir wissen, dass nach dem Generalstreik in Luxemburg Schüler zur Umerziehung auf die Burg Stahleck kamen. Wir wissen auch, dass streikende Luxemburger im SS-Sonderlager/KZ Hinzert hingerichtet wurden.
Ja, aber Koblenz? Koblenz war damals Gauhauptstadt. Was sich daraus für Koblenz und für Luxemburg und für die Beziehungen der beiden im Zweiten Weltkrieg ergab, davon möchte ich Ihnen in der nächsten Stunde berichten.
Koblenz war seit 1931 Gauhauptstadt und war es auch während des Zweiten Weltkrieges. Der Gau hieß ab 1941 Gau Moselland. Bis es soweit war, hatte der Gau schon eine zehnjährige Geschichte. Zum besseren Verständnis soll diese hier kurz skizziert werden. Und dominiert war der Gau von Anfang an von seinem Gauleiter Gustav Simon. Simon war der erste und letzte Gauleiter des Gaus, also der einzige Gauleiter hier. Das war sein Gau, ohne ihn versteht man die Geschichte nicht. Und deshalb fangen wir bei der Geschichte des Gau Mosellands von 1941 bis 1945 mit Gustav Simon an.
Gustav Simon wurde am 2. August 1900 in Malstatt-Burbach (heute ein Stadtteil von Saarbrücken) als Sohn eines Hilfsarbeiters bei der Eisenbahn geboren. Die Vorfahren väterlicherseits waren Bauern aus der Nähe von Birkenfeld. Die Simons suchten – wie viele Bauern und Landarbeiter damals – Arbeit in der saarländischen Industrie oder bei der Eisenbahn. Gustav Simon hatte übrigens noch einen jüngeren Bruder, den 1908 geborenen Paul. Paul Simon machte eine ähnliche Karriere wie sein Bruder Gustav und war zuletzt stellvertretender Gauleiter von Pommern.
Nach der Volksschule wollte Gustav Simon Volksschullehrer werden. Dazu besuchte er das katholische Lehrerseminar in Merzig - und das auch noch während des Ersten Weltkriegs. Er hatte sich nicht als Kriegsfreiwilliger gemeldet und war auch kein Soldat geworden. Das war keine gute Ausgangs-position für einen führenden Nationalsozialisten, galt doch das „Fronterlebnis“ und erst recht die Bewährung als Soldat als Grundvoraussetzung – denken Sie doch nur an den Kult, den die Nazis mit Hitler als den „kleinen Gefreiten“ und mit Göring, dem Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, trieben. Stattdessen saß Simon weiter auf der Schulbank und absolvierte seine Ausbildung. Diese schloss er dann ab, fand aber keine Anstellung als Lehrer. Simon jobbte, u.a. als Eisenbahnhelfer. Sein Vater hatte inzwischen Karriere gemacht und war Vorsteher des Bahnhofs von Hermeskeil.
Von Hermeskeil zog Simon nach Frankfurt/Main, machte Ende 1924 sein Abitur, schrieb sich an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt/Main ein und finanzierte sich sein Studium als Werkstudent. Gleichzeitig engagierte er sich in nationalistisch-völkischen Studenten-grüppchen, Im August 1925 wurde er Mitglied der NSDAP (mit der Mitgliedsnummer: 17.017). Simon gründete die NSDAP-Hochschulgruppe in Frankfurt mit und wurde 1927 Vorsitzender der Frankfurter Studentenschaft. Damit war Simon der erste nationalsozialistische AStA-Vorsitzende an einer deutschen Universität. Trotz seines offensichtlichen Fleißes brach er sein Jurastudium ab, orientierte sich um und legte die Prüfung als Diplom-Handelslehrer ab.
Dann kehrte Simon in seine Heimat zurück - nach Hermeskeil und ins Saarland. In Hermeskeil gründete er die Ortsgruppe der NSDAP. Aus dieser Zeit stammte auch sein Spitzname: „Der Giftpilz von Hermeskeil“ – oder auch „Gustav, der Kurze“. Im Saarland machte er seine Referendarzeit als Handelslehrer. Diese brach er dann vor dem Assessorexamen ab und widmete sich ganz der Arbeit für die NSDAP.
Da gab es viel zu tun. Die Parteiorganisation im Hunsrück war damals – wie im südlichen Rheinland überhaupt - noch wenig entwickelt. Die Region – wie auch Koblenz – gehörte zum Gau Rheinland-Süd, später: Gau Rheinland. Gauleiter war der Chemiker Dr. Robert Ley aus Wiesdorf bei Köln. Ley kam mit seinen Leuten nur gelegentlich hierher. Für eine systematische und nachhaltige Arbeit fehlten die Mittel und das Personal. In dieses Vakuum stieß Simon hinein.
Um Simons Karriere noch besser zu verstehen, wollen wir hier kurz einhalten. Die ganze Zeit war schon die Rede von „Gau“ – wohl gemerkt „Gau“ geschrieben und nicht „GAU“ – als größter anzunehmender Unfall“ als schlimmster Störfall beim Betrieb eines Atomkraftwerks. Als Gau bezeichnete man damals die Parteibezirke der NSDAP. Davon gab es am Anfang nicht sehr viele. Die Organisation war zunächst noch dürftig und großflächig. Die Gaue selbst waren dann noch in Bezirke unterteilt. Hier im Rheinland gab es den Gau Rheinland – mit einem nördlichen Teil, zu dem die Regierungsbezirke Köln und Aachen gehörten, und mit dem südlichen Teil mit den Regierungsbezirken Koblenz und Trier sowie dem zu Oldenburg gehörenden Landesteil Birkenfeld. Gauleiter des Gaus Rheinland war der schon erwähnte Robert Ley. Ley war später Leiter und Organisator der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und auch der Reichstrunkenbold – daher kennt man Ley besser.
Ley förderte Simon. Simon wurde Leiter des NSDAP-Bezirks Tier-Birkenfeld. Dann kam Simon auf Bitten Leys nach Koblenz, um die hier rivalisierenden NSDAP-Gruppen zu befrieden. Das gelang ihm auch. Simon wurde Leiter auch des NSDAP-Bezirks Koblenz. Schon bei den Stadtverordnetenwahlen in Koblenz im November 1929 konnte er den ersten Erfolg feiern. Im katholisch und durch die Beamten geprägten Koblenz erhielt die NSDAP 38,5 % der abgegebenen gültigen Stimmen und bildete dann – mit Simon an der Spitze – nach dem Zentrum die zweitstärkste Fraktion im Stadtrat.
Den nächsten Wahlerfolg hatte Simon bei den Reichstagswahlen im September 1930. Wenn auch das Wahlergebnis im katholischen Rheinland etwas schlechter war als im Durchschnitt des Reiches, schaffte er es doch – neben vier Zentrumskandidaten – Reichstagsabgeordneter zu werden.
Nach diesem Erfolg, der ihn auch finanziell von der Gauleitung in Köln unabhängig machte, ging Simon an die Neugliederung des Gaues Rheinland. Und im Mai 1931 war er am Ziel. Auf der Gautagung hier in Koblenz wurde die Teilung des Gaues endgültig vollzogen und Simon wurde von Ley als erster Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier-Birkenfeld in sein Amt eingeführt. Hier setzte sich Simon fest und machte Koblenz zu seiner „Gauhauptstadt“. Die Gauleitung hatte – allerdings wohl erst nach der so genannten Machtergreifung – ihren Sitz in der Emil-Schüller-Straße. Ab Oktober 1931 übernahm der Gau die von Ley gegründeten Zeitungen „Koblenzer Nationalblatt“, „Trierer Nationalblatt“ und „Westwacht“. Simon wurde ihr Herausgeber.
Damit können wir die Vorgeschichte des Gaus Moselland abschließen. Zu dem Gauleiter Gustav Simon wäre noch mehr zu sagen. Lassen wir es mit einem Satz bewenden, den Simon bereits im August 1933 sagte:
Die Saar, Elsaß-Lothringen, Österreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande sind alle einmal deutsch gewesen. Nicht eher wird der Nationalsozialismus und wird sein Führer ruhen, als das Ziel eines Groß-Deutschland von 90 Millionen erreicht ist.
Zum Gau ist nur noch zu bemerken, dass dieser nach dem Übergang des oldenburgischen Landesteils Birkenfeld an Preußen im Jahr 1937 „nur“ noch Gau Koblenz-Trier hieß.
Wenden wir uns jetzt dem Großherzogtum Luxemburg zu. Luxemburg wurde schon bald Opfer der Expansionspolitik Hitler-Deutschlands. Das begann mit dem sog. Westfeldzug, dem Überfall auf Luxemburg, Belgien, die Niederlande und auch auf Frankreich ab dem 10. Mai 1940. Dazu erklärte Hitler in einem „Aufruf an die Soldaten der Westfront“:
Die Stunde des entscheidendsten Kampfes für die Zukunft der deutschen Nation ist gekommen. (…) Der heute beginnende Kampf entscheidet das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre!
Luxemburg, Belgien und Holland wurden gleichsam überrannt. Ein von Deutschland gestelltes Ultimatum lehnte die luxemburgische Großherzogin Charlotte ab und begab sich ins Ausland, zuerst nach Frankreich, dann in weitere Länder und schließlich nach London. Schon am 11. Mai 1940 nahmen die Nazis Luxemburg vollständig in Besitz. Dabei sicherte Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop den Luxemburgern zu, „dass Deutschland nicht die Absicht hat, durch seine Maßnahmen die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit des Großherzogtums jetzt oder in Zukunft anzutasten“. – Das war natürlich – wie so vieles bei den Nazis – erstunken und erlogen. Luxemburg wurde zwar nicht rechtsförmlich angegliedert, es galt also „staatsrechtlich noch nicht als Inland“. Gleichwohl wurde es aus offizieller deutscher Sicht „in die Verwaltung des Deutschen Reiches übernommen“ – wenn auch der völkerrechtliche Status von Luxemburg – bewusst unklar blieb.
In Luxemburg richteten die Deutschen zunächst eine Militärverwaltung ein. Aber schon im Juli 1940 wurde Simon zum Chef der Zivilverwaltung (CdZ) in Luxemburg bestellt. Am 2. August 1940 – an seinem 40. Geburtstag - wurde Simon als Chef der Zivilverwaltung Hitler „unmittelbar“ unterstellt, von ihm sollte er „allgemeine Weisungen und Richtlinien“ erhalten. Damit schied Luxemburg aus der Militärverwaltung aus und Simon oblag fortan „die gesamte Verwaltung im zivilen Bereich“. Er selbst formulierte das so: „Die Verfassung bin ich! Die Gesetze mache ich.“ Luxemburg war für Simon eine Art Laboratorium, in dem er ungestört nationalsozialistische Politik betreiben konnte. Erklärtes Ziel war, Luxemburg in „kürzester Zeit dem deutschen Volkstum wieder zurück zu gewinnen“.
Sein Amt als Chef der Zivilverwaltung trat Simon Anfang August 1940 an. Dabei nahm er eine Parade von 800 deutschen Polizisten ab. Bei seiner Antrittsrede unterstrich er sein Ziel, Luxemburg wieder einzudeutschen und die „französische Firnis“ abzustreifen. Simon sollte und wollte die Luxemburger für das Deutschtum gewinnen und die Annexion des Großherzogtums vorbereiten. Er hatte die Hoheitsbefugnisse über die Verwaltung des Großherzogtums. Bereits die ersten Amtshandlungen Simons machten die Anstrengungen zur „Entwelschung“ und „Germanisierung“ der Luxemburger deutlich:
So stellte er bereits Anfang August 1940 fest: „Die Sprache des Landes Luxemburg und seiner Bewohner ist seit jeher deutsch.“ Sogleich erschienen Plakate gegen den Luxemburger Dialekt, „Schluss mit dem fremden Kauderwelsch“, auch brandmarkte man das „verniggerte“ Französisch. Wenig später wurden sogar die Baskenmütze und dann auch der Gebrauch der französischen Sprache in der Öffentlichkeit verboten. Verboten waren etwa auch „merci“, „bonjour“, „monsieur“, „madame“ und die französischen Namen von Geschäften und Straßen- und Ortsnamen.
Weiterhin verlangte Simon von den Luxemburgern „vollste“ Loyalität. Jeder Beamte sollte seine Loyalität einsetzen für die vollste Unterstützung der deutschen Bestrebungen“. Die Beamten und Lehrer hatten eine Erklärung zu unterschreiben, mit der sie sich verpflichteten, alle Anordnungen der deutschen Verwaltung durchzuführen. Wer nicht unterschrieb, wurde sofort aus dem Dienst entfernt. Gleichzeitig fanden für die luxemburgischen Beamte Schulungslehrgänge im Deutschen Reich statt. Die Namen der entlassenen Beamten wurden in der Tagespresse veröffentlicht.
Außerdem stülpte Simon Luxemburg deutsche Verwaltungs-strukturen und –organisationen über und führte deutsches Recht ein. Er etablierte Mitte August 1940 ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD). Es bestand aus je einer Abteilung Geheime Staats-polizei (Gestapo), Kriminalpolizei (Kripo) und Sicherheits-dienst (SD). Es erhielt seinen Sitz in der Villa Pauly. Der Leiter des Einsatzkommandos in Luxemburg war in Personalunion Leiter der Staatspolizeistelle Trier. Erster Leiter wurde der SS-(Ober)Sturmbannführer und Oberregierungsrat Wilhelm Nölle und dann ab März 1941 der SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Fritz Hartmann. Hartmann war zuvor Leiter der Staatspolizei(leit)stelle Koblenz gewesen. Er wurde im März 1941 Leiter der Staatspolizeistelle Trier und in Personalunion Leiter des Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD in Luxemburg.
Ebenfalls Mitte August 1940 organisierte Simon den Justizbereich neu. Mit Wirkung vom 14. August 1940 ordnete er die Einrichtung eines Sondergerichts an. Es war zuständig für die Aburteilung „deutschfeindlicher“ Kundgebungen aller Art. Darunter fielen auch die Herstellung von Flugblättern, die Verbreitung von „deutschfeindlichen“ Nachrichten, aber auch der Verkehr mit Kriegs- und Zivilgefangenen sowie Streiks. Des Weiteren musste das Sondergericht alle Strafsachen verhandeln, die die Staatsanwaltschaft bei dem Sondergericht anklagte. Das Sondergericht wandte deutsches Recht an. In leichten Fällen sollte es Geldstrafen aussprechen, ansonsten verhängte es Gefängnisstrafen und in schweren Fällen Zuchthausstrafen und sogar die Todesstrafe.
Zugleich regelte Simon die personellen Angelegenheiten. Er bestellte einen „Kommissar für die Justizverwaltung in Luxemburg“ sowie einen „Kommissar für die Staatsanwaltschaft und den Strafvollzug in Luxemburg“. Kommissar für die Justizverwaltung wurde der Präsident des Oberlandes-gerichts Köln und Kommissar für die Staatsanwaltschaft und den Strafvollzug der Generalstaatsanwalt in Köln. Diese wiederum ernannten ihre Vertreter vor Ort, die die Aufgaben als Kommissar in Luxemburg tatsächlich wahrnahmen. Für die staatsanwaltschaftlichen Belange war das vor allem der Koblenzer Staatsanwalt Leonhard Drach. Das Sondergericht in Luxemburg tagte unter Adolf Raderschall. Raderschall war Landgerichtsdirektor am Landgericht in Trier und abgeordnet nach Luxemburg.
Im Laufe der Zeit wurden die Kompetenzen des Sondergerichts immer weiter ausgedehnt, so dass es schließlich auch für Sabotage, Abhören von „Feindsendern“, Vergehen gegen Kriegswirtschaftsbestimmungen, Wehrkraft-zersetzung und Wehrdienstentziehung zuständig war.
Im Herbst 1941 kam es im Justizbereich noch zu einer organisatorischen Änderung. Zu dieser Zeit hatte Simon festgestellt, dass der Volksgerichtshof und die Reichsanwaltschaft in Berlin mit Luxemburger Sachen befasst waren. Darin sah er eine Kompetenzbeschneidung und ordnete deshalb am 31. Oktober 1941 an, dass das Sondergericht Luxemburg auch die Zuständigkeiten des Volksgerichtshofs übertragen erhielt. Nun war das Sondergericht Luxemburg auch zuständig für die Bestrafung von Hochverrat, Landes-verrat und Angriffen gegen Hitler, sofern die Tat in Luxemburg begangen wurde. Damit diese Bestimmungen auf Luxemburg angewendet werden konnten, erklärte Simon für die erwähnten Straftaten Luxemburg zum Inland. In diesem Zusammenhang wurden also und schon ab Oktober 1941 die Luxemburger als deutsche – und nicht als ausländische - Staatsangehörige behandelt. Das Sondergericht konstituierte sich in diesen Fällen als Sondergericht/Volksgerichtshof.
Wie eine Fragebogen-Aktion nach dem Krieg ergab, hielten Sondergericht und Sondergericht/Volksgerichtshof in der Zeit vom 22. Oktober 1940 bis zum 3. August 1944 170 Sitzungen ab. Diese Angaben beziehen sich dabei – wie auch die folgenden – nur auf Verfahren in „politischen Sachen“. Vor dem Gericht erschienen insgesamt 875 Personen, davon 799 in „normaler“ Sondergerichtshof-Zuständigkeit und 76 in Volksgerichtshof-Zuständigkeit. Davon wurden 17 Personen zum Tode verurteilt, von denen 15 hingerichtet und zwei wegen Formfehler oder Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Zuchthausstrafe mit dem Leben davonkamen. Zudem wurde eine lebenslängliche Zuchthausstrafe ausgesprochen. An Strafen wurden insgesamt 1.034 Jahre und 1.174 Monate Zuchthaus und 166 Jahre, 1.874 Monate und 65 Wochen Gefängnis verhängt. 20 Verurteilte starben in der Haft, 5 kehrten nicht zurück, 11 starben nachträglich - zum größten Teil an den Folgen ihrer Inhaftierung. 120 zurückgekehrte Personen waren krank, 28 erlitten durch Haft oder Unfall Kriegsschäden; die meisten davon waren noch im Jahre 1948 krank, einer hundertprozentig.
In wichtigen Fällen legte Simon das Strafmaß selbst fest. So heißt es z.B. als Ergebnis einer Besprechung beim Gauleiter Simon im Mai 1942:
„a) für den Fall Müller und Hubert hält der Gauleiter die Todesstrafe für die gegebene Bestrafung,
b) im Falle Clesse ist er mit einer Bestrafung des Haupttäters von sechs bis zehn Jahren Zuchthaus einverstanden,
c) im Fall Bernardy erscheint eine Bestrafung von zwei bis drei Jahren Gefängnis am Platze,
d) im Falle Helten ist eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren geboten.“
Zu den ersten Maßnahmen Simons als Chef der Zivilverwaltung gehörten im September 1940 mehrere Verordnungen, mit denen er die Bestimmungen der „Nürnberger Rassengesetze“ auch in Luxemburg in Kraft setzte. Die galten für 750 luxemburgische Juden. Diese waren in Luxemburg verblieben, nachdem knapp 3.000 Juden Luxemburg noch hatten verlassen können bzw. ausgewiesen wurden. Die verbliebenen Juden wurden in einem abseits gelegenen ehemaligen Kloster in Fünfbrunnen zusammengezogen. Am 16. Oktober 1941 mussten die ersten von ihnen „auf Transport in den Osten“ gehen. In sechs weiteren Deportationen wurden schließlich alle Juden bis zum 17. Juni 1943 nach Litzmannstadt (Lodz), Theresienstadt, Izbica bei Lublin und Auschwitz verschleppt und dann ermordet.
Im Januar 1941 gab man dem Konstrukt deutscher NS-Verwaltung auch im besetzten Luxemburg einen Namen: Gau Moselland. Der NS-Gau Koblenz-Trier wurde um das besetzte Großherzogtum Luxemburg erweitert. Simon war jetzt Gauleiter dieses Gaus Moselland. Außerdem war er Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg.
Dieses Konstrukt „Gau Moselland – und Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg“ war mit Blick auf die vielen von Hitler-Deutschland besetzten Länder und Gebiete ungewöhnlich - aber nicht einmalig. Auch zwei andere Gebiete im Südwesten wurden genauso organisiert.
Der NS-Gau Saarpfalz, der nach der Rückgliederung des Saargebiets in das Deutsche Reich aus dem Gau Pfalz und dem Saargebiet entstanden war, dieser Gau Saarpfalz wurde auf das besetzte Lothringen erstreckt und dann der Gau Westmark gebildet. Zuvor war der Gauleiter Josef Bürckel zum Chef der Zivilverwaltung in Lothringen ernannt worden. Und ebenso war es im Gau Baden. Auch der wurde auf das besetzte Elsaß erstreckt. Es entstand der Gau Baden-Elsaß. Der Gauleiter Robert Wagner wurde zugleich Chef der Zivilverwaltung von Elsaß.
So gab es im Südwesten drei Reichsgaue, die jeweils um die besetzten Gebiete Luxemburg, Lothringen und Elsaß erweitert waren. Diese Erweiterung galt jeweils „nur“ für das Parteigebiet. Damit war keine völkerrechtliche Annexion verbunden. Wohl war es aber eine „kalte Annexion“. Die Nazis verbrämten das propagandistisch in der ihnen eigenen Art. Dazu gab das Gaupresse- und Gaupropagandaamt Moselland 1942 den Bildbericht „Moselland“ heraus. Hierfür schrieb Gustav Simon ein Vorwort, das ich Ihnen nicht vorenthalten will. Das lautet:
Es sind zwei große Ströme, Rhein und Mosel, die dem westdeutschen Raume sein besonderes Gepräge geben. Am Rheine und an seiner majestätischen und heroischen Tallandschaft haben sieben deutsche Gaue Anteil. Die Mosel aber fließt in ihrem schönsten Teil, nämlich zwischen Trier und Koblenz, nur durch einen Gau, dem der Führer daher die Bezeichnung „Moselland“ verliehen hat.
Durch diese Namensverleihung sind Eifel, Hunsrück und Wester-wald mit den idyllischen Tälern der Ahr, der Nahe, des Saar-Unterlaufs und der Sieg zu einem neuen Landschaftsbegriff zusammengefasst worden. Gleichzeitig ist damit ein Raum, der in der Frühzeit der deutschen Geschichte und ebenso im ganzen Mittelalter eine bedeutende Rolle gespielt hat, besonders herausgestellt.
Zu der Mosellandschaft gehört auch Luxemburg mit seinen einzigartig schönen Tälern und Kleinstädtchen in den Ardennen und im nördlichen Minette-Gebiet. Luxemburg mit seiner geschlossenen deutschsprachigen Bevölkerung ist seit jeher ein Teil des moselfränkischen Mundartgebietes, das von Siegen bis Arel und von der Ahr bis zur Nahe reicht und sich, von geringen Abweichungen abgesehen, mit dem Gebiete des Gaues Moselland deckt.
Die Mosel, von Wasgau kommend, fließt von Trier bis Koblenz in west-östlicher Richtung. Sie weist damit alle Gebiete, die sie durchfließt, ins Reich. Damit gibt sie dem Gau Moselland die politische Richtung. Er hat als höchste Aufgabe die Verpflichtung, alle Moselländer von den Ardennen bis zum Westerwald stark zu machen im Bekenntnis zum Reich, zum Führer und zum Nationalsozialismus.
Soweit Gustav Simon, der Gauleiter des Gaues Moselland und Chef der Zivilverwaltung Luxemburg mit seiner Propaganda. Diese Propaganda machte Simon natürlich nicht allein. Der eigentliche Macher war der Gaupropagandaleiter Albert Urmes aus Koblenz. Es gab auch eine Außenstelle des Reichspropagandaamtes in Luxemburg. Ein williger Helfer war der Koblenzer Stadtbibliotheksdirektor Dr. Hans Bellinghausen, der einige Monate an die Außenstelle des Reichspropagandaamtes in Luxemburg abgeordnet war. Aus Bellinghausens Feder kamen zahlreiche Aufsätze, die er mit der Aura des Wissenschaftlers veröffentlichte. So erschien im Juni 1941 – im selben Monat, in dem Hitler mit dem Überfall auf die Sowjetunion den „Vernichtungskrieg“ im Osten entfesselte, von Bellinghausen ein Aufsatz mit dem Titel „Die wehrpolitische Bedeutung des moselländischen Raumes“. In diesem spannte Bellinghausen den ganz großen Bogen von der Steinzeit über die Jahrtausende und Jahrhunderte bis zur Besetzung der Rheinlande durch die Franzosen und bis zur damaligen Gegenwart der Diktatur Hitlers. Der Aufsatz endete mit den Worten:
Grenzlandschicksal! Grenzlandtreue! Diese beiden Worte ziehen wie eine eherne Kette durch die zweitausendjährige geschichtliche Vergangenheit des Rhein- und Mosellandes. (…) Hat es (das Grenzvolk im Westen, Erg. d. A.) früher oft genug in seinem Kampf um die Heimat allein gestanden, so hat heute ganz Deutschland den Schutz seiner Grenzen übernommen. Wehrmacht und Partei aber sind die beiden Träger des unerschütterlichen Volkswillens zur Sicherung des deutschen Lebensraumes gegen jede innere und äußere Bedrohung. In ihrem Schutz wird der Gau Moselland allzeit stehen in Treue fest hinter dem Führer auf der Wacht am Rhein.
Der Koblenzer Historiker Dr. Bellinghausen verfasste noch zahlreiche solcher Aufsätze. Im Rahmen dieses Vortrags kann ich nicht näher darauf eingehen, die Titel der Beiträge vermitteln aber schon einen Eindruck. So schrieb er unter den Titeln: „Der Luxemburger spricht deutsch.“ – „Luxemburg im Kampfe um sein Deutschtum.“ – „Aus der geschichtlichen Vergangenheit des Gaues Moselland.“ - „Die Zerstörung von Esch an der Alzig durch die Franzosen im Jahre 1794“ mit dem Untertitel: „70 Luxemburger kämpfen um ihr Deutschtum gegen eine 5000 Mann starke französische Armee“.
Soweit die massive Geschichtsknittelung hier von Koblenz aus. Dr. Hans Bellinghausen ist übrigens noch heute ein hochgeschätzter Historiker, nach dem auch eine Straße in Koblenz benannt ist.
Ein Markstein in der deutschen Besatzungspolitik Luxemburgs war die Zwangsrekrutierung von jungen Luxemburgern in die deutsche Wehrmacht. Mit zunehmender Kriegsdauer und einem Zweifrontenkrieg – nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 – wurde der Bedarf an Soldaten immer größer. Auch die Luxemburger mussten möglichst viele stellen. Simon startete eine große Anwerbeaktion, die aber wenig erfolgreich war. Schließlich blieb ihm – auch unter dem Druck aus Berlin – nichts anderes übrig, als in Luxemburg die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Am 30. August 1942 verkündete er die Wehrpflicht für die Luxemburger der Jahrgänge 1920 bis 1924. Später wurde sie auf die Jahrgänge bis 1927 ausgedehnt. Die Zwangsrekrutierten erlangten die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch durch den Eintritt in die deutsche Wehrmacht. Die Wehrpflicht war also nicht die Folge der Staatsangehörigkeit, sondern deren Voraussetzung. Das war also eine zwangsweise Eingliederung in eine fremde Wehrmacht, die das Völkerrecht verbietet.
Dies provozierte in den darauffolgenden Tagen eine Reihe von Streikaktionen in verschiedenen Ortschaften. Geschäftsleute schlossen ihre Läden, Lehrer und Beamte weigerten sich, ihren Dienst anzutreten, in der Schwerindustrie verließen Arbeiter ihren Arbeitsplatz, Bauern lieferten keine Milch ab. Diese Aktionen hatten mehr symbolischen Charakter. Sie dauerten nur einige Stunden an und hatten keine nachhaltige, schon gar keine zerstörerische Wirkung. Insgesamt zogen sie sich da und dort im Land bis zum 2. September 1942 hin.
Nachdem diese Protestaktionen schon stattgefunden hatten bzw. während sie liefen, erließ Simon als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg unter dem 31. August 1942 insgesamt vier Verordnungen über die Verhängung des zivilen Ausnahmezustandes. Dieser wurde zunächst nur für die Stadt Esch verhängt (1. Verordnung), später auch auf die Stadt Düdelingen (3. Verordnung) und schließlich über das gesamte Gebiet von Luxemburg (4. Verordnung). Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes ging die Einsetzung eines Standgerichts einher. Das geschah in der 2. Verordnung vom 31. August 1942. Da das alles so schnell ging und das Verordnungsblatt für Luxemburg nicht so schnell gedruckt werden konnte wie sich die Unzufriedenheit unter den Luxemburgern ausbreitete, ließ Simon hierüber Plakate drucken und öffentlich anschlagen.
Ein wesentlicher Punkt bei diesem Ausnahmezustand war die Einrichtung eines polizeilichen Standgerichts. Für dieses „Super-Sondergericht“ erließ Simon eine Art Verfahrensordnung. Danach wurde dieses Sondergericht als polizeiliches Standgericht gebildet. Es sollte zuständig sein zur Aburteilung von Straftaten, die das deutsche Aufbauwerk gefährden. Simon behielt sich die Bestimmung der Handlungen vor, die unter das Standrecht fallen sollten. Es war also völlig willkürlich, welche Handlungen und welche Personen bei dem Standgericht angeklagt wurden. Das Standgericht konnte nur auf Todesstrafe, Überstellung an die Geheime Staatspolizei oder Freispruch erkennen.
Dieses spezielle Sondergericht bestand aus einem Vorsitzer und zwei Beisitzern. Simon bestimmte den Führer des Einsatz-kommandos der Sicherheitspolizei und des SD in Luxemburg, den bereits erwähnten SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Fritz Hartmann zum Vorsitzer des Standgerichts. Dieser berief dann die Beisitzer. Der eine Beisitzer war der Landgerichtsdirektor Adolf Raderschall – der Vorsitzer des Sondergerichts Luxemburg - und der zweite Beisitzer war ein gewisser Albert Schmidt, Obersturmbann-führer und Kommissar bei der Geheimen Staatspolizei in Trier. Vertreter der Anklagebehörde war der ebenfalls schon erwähnte Staatsanwalt Leonhard Drach.
Das Standgericht – so hieß es in der Verordnung von Simon weiter – bestimmte sein Verfahren selbst. Es hatte alles zu tun, war zur Erforschung der Wahrheit erforderlich war. Das Urteil und die Besetzung des Gerichts sowie eine kurze Urteilsbegründung waren schriftlich niederzulegen. Die Vollstreckung der Urteile musste der Vorsitzer veranlassen. Zeit und Ort der Vollstreckung waren schriftlich zu fixieren. Die Urteile des Standgerichts waren endgültig, nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar. Sie bedurften dann nur noch der Bestätigung durch Simon als Chef der Zivilverwaltung. Und schließlich: Die Verordnung trat mit sofortiger Wirkung in Kraft.
Die Druckerschwärze des Verordnungsblatts von Luxemburg war noch nicht trocken, da fand auch schon die erste Sitzung dieses polizeilichen Standgerichts in der Nacht des 1. September 1942 statt. Der Vorsitzer des Standgerichts war von Simon instruiert, dass grundsätzlich nur die Todesstrafe zu verhängen sei. 20 Angeklagte wurden vom Standgericht zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung aller 20 Todesurteile fand meist schon am ersten Tag nach der Verurteilung im SS-Sonderlager/KZ Hinzert statt. Blutrote Plakate, die noch in der Nacht der Urteilsverkündung gedruckt und sogleich im ganzen Land aufgehängt wurden, verkündeten die Todesurteile und erklärten die Hinrichtungen für bereits vollzogen, auch wenn sie in Wirklichkeit erst ein oder zwei Tage später erfolgten. Der Gauleiter Simon war mit der Arbeit des Standgerichts sehr zufrieden und äußerte sich anerkennend.
In mehreren Fällen ordnete das Standgericht die Einstellung des Verfahrens an. Freisprüche gab es aber keine. 31 Angeklagte wurden zur Überstellung an die Geheime Staatspolizei verurteilt. Das hatte „Schutzhaft“ mit Einlieferung in ein Konzentrationslager zur Folge. Die meisten von ihnen wurden erst ins KZ Hinzert eingeliefert und von dort aus nach einigen Monaten in ein bei Lublin in Polen gelegenes Konzentrationslager verschleppt.
Verschleppt wurden auch an dem Streik beteiligte Schüle-rinnen und Schüler. Mädchen wurden in die Jugendherberge nach Adenau, nach Altenahr und Marienthal gebracht. 183 Schüler im Alter von 16 bis 19 Jahren kamen auf die Burg Stahleck oberhalb von Bacharach. Dort befand sich ein „Jugenddienstlager“ der Hitler-Jugend. Die Schüler wurden schikaniert und sollten mürbe gemacht werden. Stundenlang mussten sie Appellstehen und exerzieren, manche von ihnen die Straße auf der Burg mit Zahnbürsten säubern.
In unmittelbarem Zusammenhang mit den Streikaktionen verkündete Simon am 9. September 1942 eine „Umsiedlungsaktion für Luxemburger“. Bis 1944 wurden daraufhin mindestens 1.410 Familien mit ca. 4.200 Personen nach dem Osten, in das Sudetenland und Oberschlesien, umgesiedelt.
Rund 11.200 junge Luxemburger wurden in den folgenden Jahren in den Reicharbeitsdienst (RAD) und in die Deutsche Wehrmacht gezwungen. 2.750 von ihnen kehrten nicht wieder zurück. 3.510 entzogen sich dem Dienst in der Wehrmacht durch Flucht. Vom Reichsarbeitsdienst und vom Kriegshilfsdienst waren auch 3.600 Mädchen betroffen. 60 von ihnen kamen dabei ums Leben.
Die Luxemburger Bevölkerung stand den deutschen Besatzern und der Besatzungspolitik weitgehend reserviert und ablehnend gegenüber. Als Simon im Oktober 1941 mit einer Volkszählungsstatistik eine formale Zusage der Luxemburger zum Deutschtum erreichen wollte, scheiterte er kläglich. Stichproben ergaben, dass auf dem Lande 98% und in den Städten 96% der Bevölkerung die deutsche Volkszugehörigkeit ablehnten. Natürlich gab es in Luxemburg auch Kollaboration, Kollaborateure und Denunzianten. Es gab aber auch passiven Widerstand und auch verschiedene Wider-standsgruppen. Teilweise wurden Mitglieder von ihnen vom Sondergericht in Volksgerichtszuständigkeit abgeurteilt. Andere wurden auf Geheiß Simons ohne – noch so fadenscheinige – Gerichtsverhandlung erschossen: so 23 Widerständler am 25. Februar 1944 im SS-Sonderlager/KZ Hinzert und 10 Widerständler am 19. Mai 1944 im KZ Natzweiler-Struthof im Elsaß.
Unterdessen kam es an 6. Juni 1944 (dem sog. D-Day) zur Invasion der westlichen Alliierten in Dünkirchen/Nordfrankreich. Mitte August war der Weg nach Paris frei und am 25. August 1944 zog General Charles de Gaulle in Paris ein. Da wurde der Boden in dem von Deutschland besetzten Luxemburg sehr heiß. Als die Alliierten bedrohlich nahekamen, verließ Simon am 1. September 1944 fluchtartig Luxemburg. Auf Befehl aus Berlin musste er umgehend nach Luxemburg zurückkehren. Aber bereits wenige Tage später, am 9. September 1944, verließ er Luxemburg endgültig. Am Tag darauf trafen die Amerikaner in Luxemburg-Stadt ein, am 22. Februar 1945 war ganz Luxemburg befreit. Mittlerweile residierte Gustav Simon mit seinem Stab auf Schloss Sayntal bei Bendorf am Rhein. Er bezeichnete sich zu dieser Zeit immer noch als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg – allerdings mit dem Zusatz: „zurzeit in Koblenz“.
Damit fand der Gau Moselland sein Ende gewissermaßen im Syntal bei Bendorf am Rhein. Irgendwie schloss sich damit der Kreis, hatte Gustav Simon seine Lobrede auf den Gau Moselland doch mit den Worten begonnen:
Es sind zwei große Ströme, Rhein und Mosel, die dem westdeutschen Raume sein besonderes Gepräge geben.
Da Sie sicherlich nach alledem auch noch das Ende des Gauleiters Gustav Simon wissen wollen, schließe ich meinen Vortrag mit Gustav Simons Ende.
Simon war noch bevor die Amerikaner im März 1945 nach Koblenz gekommen waren, geflohen. Nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht tauchte er in Westfalen unter, veränderte sein Äußeres, trug nun eine Brille und einen Schnurrbart und nannte sich nach dem Mädchennamen seiner Mutter Hans Wöllfer. Trotzdem gelang es den Briten, ihn am 11. Dezember 1945 in der Nähe von Paderborn zu verhaften. Kaum in seiner Gefängniszelle, schnitt sich Simon mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf – schließlich drohte ihm ja die Auslieferung nach Luxemburg. Der Selbstmordversuch misslang aber. Nach der weiteren Darstellung der Briten erhängte er sich am 18. Dezember 1945 in seiner Zelle – und zwar an einem Bettpfosten. Nach einer anderen Quelle soll Simon auf dem Weg von Paderborn nach Luxemburg im Gefängnis in Luxemburg oder auf dem Transport dorthin von luxemburgischen Widerstandskämpfern erschlagen worden sein. Jedenfalls verbrachte man seinen Leichnam in das Gefängnis von Luxemburg-Stadt, dem Grund-Gefängnis, und seine Leiche konnte dort auch besichtigt werden. Was dann mit der Leiche geschah, ist nicht bekannt, unbekannt ist auch das Grab Simons. Seine Sterbeurkunde wurde jedenfalls erst zwei Monate nach seinem Tod, im Februar 1946 in Paderborn, ausgestellt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zur Eröffnung der Ausstellung in der Florinskirche in Koblenz sendete der private Fernsehsender "Rheinland-Pfalz Fernsehen" einen umfangreichen Bericht.
Sehen Sie HIER den Bericht
13. Stolperstein-Aktion in Koblenz
Am 26. Juni 2019 war der Kölner Künstler Gunter Demnig wieder im Rheinland mit Stolpersteinen unterwegs. Auch in Koblenz machte er Halt. Hier verlegte er zwei Stolpersteine, mit denen es eine beasondere Bewandtnis hatte. Der eine Stolperstein erinnert an den evangelischen Pfarrer Paul Schneider, den "Prediger von Buchenwald". Dieser Stein - übrigens der erste Stolperstein für Paul Schneider - wurde vor dem heutigen Kreishaus der Kreisverwaltung Mayen-Koblenz am Friedrich-Ebert-Ring verlegt. Dort befand sich nicht - wie sonst bei der Verlegung von Stolpersteinen üblich - sein letzter frei gewählter Wohnsitz (das war vielmehr das Pfarrhaus in der Hunsrückgemeinde Dickenschied). Die Verlegung erfolgte an dem Ort, an dem Pfarrer Paul Schneider zuletzt in Koblenz inhaftiert war und von wo aus er am 27. November 1937 in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verschleppt wurde. Da dieser JHaftort von Paul Schneider wenig bekannt ist und auf diese Historie hingewiesen werden soll, wurde der Stolperstein für Paul Schneider ergänzt durch einen zweiten, das erklärenden Stolperstein. Dieser "Erklärtstein" macht deutlich, dass an dieser Stelle stehende Kreishaus mit der Verfolgung in der NS-Zeit nichts zu tun hat. Er weist darauf hin, dass an dieser Stelle früher das Polizeipräsidium Koblenz stand. Dort war Paul Schneider in den Arrestzellen im 1. Stock inhaftiert. Mit dem Stein soll mittelbar auch an weitere dort inhaftierte NS-Opfer erinnert werden. So ist bekannt, dass zusammen mit Pfarrer Paul Schneider dort fünf "Ernste Bibelforscher" (Zeugen Jehovas) inhaftiert waren. Zusammen mit Paul Schneider ging ein Zeuge Jehovas, Otto Müller, auf Transport ins KZ Buchenwald. Seine Frau Johanna wurde zur gleichen Zeit vom Koblenzer Polizeipräsidium aus in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Anders als Pfarrer Paul Schneider, der am 18. Juli 1939 im KZ Buchenwald ermordet wurde, überlebten die aus Idar-Oberstein stammenden Zeugen Jehovas die jahrelange Haft in Konzentrationslagern. Vielleicht werden für die Eheleute Otto und Johanna Müller an gleicher Stelle auch noch Stolpersteine verlegt.
Lesen Sie HIER den Vorbericht unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig im
"Schängel" Nr. 25 vom 19. Juni 2019 über die Stolperstein- Verlegung, sowie den Artikel im
"Schängel" Nr. 27 vom 3. Juli 2019 über die Verlegung selbst.
Bei der Verlegung der Stolpersteine wurden mehrere kleine Ansprachen gehalten. Lesen Sie HIER die Ansprache unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig, in der aus den Briefen Paul Schneiders, die er aus der Haft im Polizeipräsidium Koblenz heraus an seine Ehefrau Margarete geschrieben hat, zitiert wird.
Briefe von Pfarrer Paul Schneider aus dem Gefängnis im Polizeipräsidium in Koblenz an seine Familie
Vorbemerkung
Seit 1933 stand Pfarrer Paul Schneider unter Beobachtung der Nazis. Sie sorgten wiederholt für seine Maßregelungen durch die Evangelische Kirchenleitung und auch für Inhaftierungen. Seit er 1934 in die Hunsrückgemeinden Dickenschied und Womrath strafversetzt worden war, wurde er zweimal kürzere Zeit in den Gefängnissen von Simmern und Kirchberg inhaftiert. Im Mai 1937 kam Pfarrer Paul Schneider zum ersten Mal in „Schutzhaft“ in Koblenz, und zwar in das „Hausgefängnis“ der Gestapo „Im Vogelsang“. Nach zwei Monaten entließ ihn die Gestapo aus der Haft mit der Auflage, das Rheinland zu verlassen. Zum Erntedankfest 1937, am 3. Oktober 1937, kehrte er verbotenermaßen zu seinen Gemeinden zurück und feierte zunächst mit der Gemeinde Dickenschied den Gottesdienst. Auf dem Weg zur Gemeinde Womrath wurde er verhaftet. Am folgenden Tag brachte man ihn wieder in Schutzhaft in der Gestapozentrale „Im Vogelsang“.
Nach wenigen Tagen dort wurde er hierher in das ehemalige Polizeipräsidium verlegt. Hier gab es damals im 1. Stock mehrere Hafträume, also ebenfalls ein „Hausgefängnis“.
Auszüge aus seinen Briefen
Aus der Haft wissen wir von und über Paul Schneider und die Situation einiges aus Briefen, die er seiner Familie schreiben konnte. Das waren offizielle Briefe, die durch die Postzensur der Gestapo liefen, und auch inoffizielle Briefe, die er seinen Wäschepaketen, die nur von den Polizeiwachtmeistern kontrolliert wurden, versteckt beilegte.
Ein immer wiederkehrendes Motiv in seinen Berichten aus der Haft war ein Kastanienbaum, der vor seinem Fenster stand, da wo heute die Tiefgarage der Sparkasse ist.
In einem Brief vom 18. Oktober 1937 heißt es dazu:
Ich sitze auf meinem lustigen Sitz am Fensterbrett, genieße den Ausblick in die Kastanienkrone, die nun in wenigen Tagen gelb geworden ist, die Blätter im Wintersterben mit letzter Kraft noch festhaltend. (…) Spazieren waren wir auch wieder. Dabei sieht man an den Fenstern allerlei Gesichter, und wenn es jemand mal vor Sehnsucht nach mir nicht mehr aushalten könnte, brauchte er nur einen Fensterplatz in einer der Privatwohnungen zu belegen. Von da kann man den ganzen Hof einsehen.
Im Brief vom 24. Oktober 1937 schrieb er zunächst wieder über den Kastanienbaum:
Wenn ich (…) nachmittags meinen Verandaplatz am offenen Fenster einnehme, wie auch jetzt beim Schreiben, oder wenn ich mich an dem nun gelb gewordenen Kastanienbaum freue, den die Nachmittagssonne golden überglänzt und durch den der Himmel immer lichtet fein ziseliert hereinschaut, dann komme ich mir fast wie ein Lebemann vor und beneide keinen Menschen auf der Welt.
Und dann kam Paul Schneider auf die Liebe der Eheleute zueinander zu sprechen und schrieb:
Und gell, Liebste, das haben wir nun durch unsere verschiedenen Trennungen auch schon erfahren, dass das innere Zusammengehören im Glauben vor Gott wichtiger, ja entscheidend wichtig ist, gerade auch für Eheleute, „dass eins das andere mit sich in den Himmel bringe.“
Am Freitag, dem 26. November 1937, sahen sich die Eheleute Paul und Margarete Schneider noch einmal hier im Gefängnis und nahmen Abschied voneinander.
Seine Frau Margarete erzählte später
Da es Freitag vor dem 1. Advent ist, habe ich ein Adventskränzlein bei mir. Er nimmt es nachher in seine Zelle und liest in seinem Licht die Adventslichter. – Paul weiß, dass er heute noch frei ist, wenn er sich verpflichtet, dem Ausweisungsbefehl Folge zu leisten. Das Herz ist uns ganz schwer. Ich streichle Paul leise. „Wie hab‘ ich dich so lieb!“ da erschüttert ihn tiefes Weinen. Wir reden nichts mehr. – der Aufsichtsbeamte fordert uns dazu auf, indem er auf seine Verschwiegenheit hinweist. Ich habe die Losung des Tages aufgeschlagen: „Es hat überwunden der Löwe aus Juda.“ – Stammelnd beten wir das Vaterunser miteinander. Die Zeit ist abgelaufen. Ein schmerzdurchwühlter Mann wird abgeführt.
Und Margarete Schneider erzählte weiter:
Das darf nicht das letzte sein. Das sieht auch der Wachtmeister ein. Und so bekomme ich in der letzten Stunde vor dem Abtransport noch einmal Einlass. Wir haben uns gefasst. „Wir dürfen nicht mehr weich werden.“, sagt Paul. Verse der Adventslieder, die ich eben oben in der Zelle trösteten, strömen von seinen Lippen. (Dann wird Paul Schneider zusammen mit einem Ehepaar in einen Gefängniswagen geführt.). – Margarete Schneider hatte dann noch ein letztes, bleibendes Bild von ihrem Mann und sagte später: Als letzter schaut Paul noch einmal aus dem Gefängnisauto heraus – lächelnd.
Paul Schneider – der „Prediger von Buchenwald“
Am diesem 27. November 1937, dem Samstag vor dem 1. Advent, wurde Paul Schneider in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verschleppt. Dort kam er wegen seines widerständigen Verhaltens auch noch im KZ in das Gefängnis des KZ, in den Bunker. Von dort „predigte“ trotz ständigen Misshandlungen zu den auf dem Appellplatz stehenden Häftlingen. Er rief ihnen Bibelsprüche, Trostworte und Ermutigungen zu und klagte die SS-Leute an. Paul Schneider wurde zum „Prediger von Buchenwald“ – so sein Ehrentitel.
1 ½ Jahre später, am 18. Juli 1939 kam Paul Schneider ums Leben, er wurde ermordet. Seine Witwe Margarete durfte den Leichnam nach hier überführen. Wenige Tage später wurde er unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Pfarrer der Bekennenden Kirche auf dem Friedhof in Dickenschied beigesetzt. Seit 2003 ruht an seiner Seite seine Frau Margarete. Sie hat Jahrzehnte lang die Erinnerung an ihren Mann wachgehalten. So kann Pfarrer Paul Schneider uns auch heute noch ein Vorbild für Glaubenstreue und für ein bedingungsloses Eintreten für eine Wahrheit und Menschlichkeit sein.
Die Stolperstein-Verlegung wurde begleitet von einem Filmteam von Rheinland-Pfalz.Fernsehen. Hier ist der Link, um sich diesen Beitrag anzusehen.
Von der Stolperstein-Verlegung hat Herr Ralf Schulze Fotoaufnahmen gemacht. Sie sind nachfolgedn hier zu sehen:
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Lesen Sie HIER den Artikel im "Schängel" Nr. 26 vom 26. Juni 2019.